Erster Hirtenbrief von Bischof Michael Gerber
Schlüsselerfahrungen erspüren
„Wir befinden uns in guter Gesellschaft mit den Frauen und Männern vom See Genezaret.“ Das schreibt Bischof Michael Gerber in seinem ersten Hirtenbrief. Das Schreiben im Wortlaut:
Liebe Schwestern und Brüder!
Es ist mir ein wichtiges Anliegen, mich einige Wochen nach meiner Amtseinführung mit einem Hirtenwort an Sie zu wenden. Inzwischen durfte ich ganz unterschiedliche Menschen kennenlernen, die sich in unserem Bistum engagieren. Ich bin dankbar für all die vielen Personen, die mir mit offenem Herzen begegnen und mir so helfen, tiefer ins Bistum Fulda hineinzufinden. Das ist für mich in diesen ersten Wochen eine wesentliche Erfahrung: Bei all den Herausforderungen, in denen wir derzeit sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche stehen, gibt es hier im Bistum viele Menschen, die sich mit großer Leidenschaft für den Dienst an Gott und an seinem Volk einsetzen. Ich freue mich auf die vielen Zusammenkünfte, die in Zukunft auf uns warten.
Welchen konkreten Weg will Gott mit uns gehen?
Bei meiner Amtseinführung am 31. März habe ich Fragen formuliert, von denen ich mich bei unseren Begegnungen leiten lasse: „Welche Geschichte hat Gott mit den Menschen hier geschrieben? Welchen Weg ist Gott mit den Menschen gegangen?“ Und im Blick auf die Zukunft dürfen wir ergänzen: „Welchen konkreten Weg will er heute mit uns gehen? Was sind die nächsten Schritte?“
In den vergangenen Jahren wurden in unserem Bistum eine ganze Reihe wegweisender Schritte gegangen. Unter der Überschrift „zusammen wachsen – Bistum Fulda 2030“ geht es um die zentrale Frage: Was ist – ausgehend von Jesus Christus und seiner Botschaft – das Wesentliche, das wir als Christinnen und Christen zusammen mit den Menschen unserer Tage leben sollen? In welchen Formen und Strukturen kann das gelingen? Ich bin sehr dankbar, in ein Bistum gekommen zu sein, in dem solch ein Entwicklungsprozess bereits von meinem Vorgänger, Bischof Heinz Josef, angestoßen und strukturiert angegangen wurde. Viele haben bei der Vorbereitung und Durchführung dieses Prozesses Verantwortung über-nommen. Herzlichen Dank allen, die sich hier engagieren! Gerne mache ich mir diesen Prozess und seine Anliegen zu eigen und werde ihn nach Kräften fördern.
Keine Frage: Dieser Weg der vergangenen Jahre hat sowohl Hoffnungen als auch Ängste ausgelöst. Die einen erfahren, wie neues Leben in den Gemeinden wächst und erzählen begeistert davon, bei anderen überwiegt die Frustration und die Enttäuschung, dass sich Hoffnungen nicht erfüllt haben. Beides gilt es als Teil der einen Wirklichkeit ernst zu nehmen.
Wir befinden uns gesellschaftlich in einem epochalen Wandel. Charakte-ristisch dafür ist eine radikale Pluralität von Lebensformen. Dies bringt die Herausforderung mit sich – gerade für die junge Generation – stetig neue Entscheidungen treffen zu müssen. Zugleich erleben wir eine große Verunsicherung angesichts der globalen politischen Situation. Dass wir uns als Kirche in einer großen Glaubwürdigkeitskrise befinden, haben wir in diesen Monaten genau analysiert. Wir sind dabei, uns sowohl auf diözesaner als auch auf nationaler Ebene in konkreten Schritten neu den Fragen der Prävention und der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt zu stellen.
Doch fragen wir weiter: In welcher Gestalt von Kirche gilt es den Weg in die Zukunft zu gehen? Wie sind wir lebendig mit dem Ursprung und mit dem Zeugnis von Christinnen und Christen vor uns durch die Jahrhunderte hindurch verbunden? Wie begreifen wir uns als Teil der universalen Kirche und damit als weltweit vernetzt mit unseren Schwestern und Brüdern? Aufschlussreich ist, dass sich auch der heilige Bonifatius mit diesen Fragestellungen auseinandersetzen musste – er damals in seiner Zeit, wir heute in unserer.
In den verschiedenen Gesprächen dieser Wochen erlebe ich eine gewisse Ungeduld, die ich gut nachvollziehen kann: Es genügt nicht, die Fragen zu stellen – es braucht auch Antworten. Manche fragen sich, wann es zu konkreten Entscheidungen kommt, die den künftigen Kurs des Bistums bestimmen. Ich erlebe Menschen, die ihr künftiges Engagement in unserem Bistum auch davon abhängig machen, wie entschieden wird, wie sie beteiligt werden und ob die anstehenden Schritte als leistbar wahrgenommen werden. Aus dem, was ich derzeit sehe, wird es spätestens im nächsten Jahr in vier größeren Bereichen Weichenstellungen geben:
Erstens: Grundlegend und unabdingbar ist die Kernfrage: Wie gehen wir sowohl im Bistum insgesamt als auch in den unterschiedlichen Pfarreien und pastoralen Orten unseren Entwicklungs- und Entscheidungsweg als einen wahrhaft geistlichen Weg, der diesen Namen auch verdient? Wie gelingt es uns, die Gegenwart Gottes und sein Handeln – hier und jetzt – im Hören auf das Evangelium und im Erforschen und Deuten der „Zeichen der Zeit“ zu erkennen? Wie bestimmt das, was wir dabei an Erkenntnissen erzielen, unsere konkreten Entscheidungen und damit unser Handeln? Werden wir somit auch gesellschaftlich als eine Gemeinschaft wahrgenommen, von der gesagt werden kann, dass kirchliches Leben das ist, was Gott zusammen mit uns tut (vergleiche Apostelgeschichte 14,27 und 15,4).
Zweitens: Was genau ist gemeint, wenn die größeren pastoralen Einheiten als „Netzwerke pastoraler Orte“ verstanden werden, wie es im Prozess von „zusammen wachsen – Bistum Fulda 2030“ festgelegt wurde? Welche Erfahrungen und gelebten Beispiele gibt es, dass die geografische Umschreibung das eine ist – und vielfach auch vor allem für die kirchliche Verwaltung ihre Bedeutung hat – und dass das Leben in den Gemeinden darüber hinaus noch andere Formen und Strukturen braucht? „Netzwerke pastoraler Orte“ verdanken sich vielfach der Selbstorganisation von Christinnen und Christen. Wie finden solche Netzwerke in der Einheit der Kirche zusammen? Über solche und weitere Fragestellungen braucht es eine Verständigung.
Drittens: Solche neuen Strukturen, wie sie hier skizziert sind, brauchen eine neue Ausgestaltung des Leitungsdienstes. In welchen Formen soll Leitung und Verantwortung künftig miteinander wahrgenommen werden? Was ist das Spezifische des priesterlichen Dienstes? Und wie wird Leitungsverantwortung von Personen wahrgenommen, die nicht dem Klerus angehören?
Viertens: Wie sind die künftigen pastoralen Einheiten geografisch gegliedert? Das heißt: Welche Pfarreien des bisherigen Zuschnitts werden künftig gemeinsam eine untere pas-torale Ebene bilden, auf der kirchliches Leben gestaltet, verbindlich abgesprochen und organisiert wird?
Es geht um einen Kulturwandel
Bereits jetzt deutet sich an, dass es hier um weit mehr als um einige Strukturreformen geht. Es geht um einen Kulturwandel. Das kann Ängste auslösen. Verlieren wir Liebgewonnenes? Treffen wir womöglich die falschen Entscheidungen? Was bringt all die Mühe? Haben wir nicht schon so viel versucht – und der Erfolg bleibt dennoch aus?
Bei diesen Fragen befinden wir uns in guter Gesellschaft. Die Frauen und Männer vom See Genezareth, die Jesus nachfolgten, hatten vor Ostern wohl keine Vorstellung davon, was auf sie zukommen würde. Sie hatten keine Ahnung davon, dass sie gefordert waren, die ihnen vertraute Landschaft und Kultur zu verlassen, um das Evangelium in die Großstädte des römischen Reiches zu bringen. Der Schluss des Johannesevangeliums ist hier sehr aussagekräftig (vergleiche Joh 21). Nachdem die Jüngerinnen und Jünger lange Zeit mit Jesus in Galiläa unterwegs gewesen waren, machten sie sich auf nach Jerusalem. Die ihnen noch fremde städtische Kultur erlebten sie dort als faszinierend und bedrohlich zugleich. Der Palmsonntag zeigte ihnen, dass die Botschaft Jesu auch in Jerusalem Menschen begeistern konnte. Doch das Erleben des Karfreitags lässt jene Frauen und Männer zutiefst verstört zurück.
So treten sie, gemäß dem Johannesevangelium, nach den Erlebnissen in Jerusalem den Rückzug an. Sie flüchten sich in die ihnen vertraute Welt der Fischer am heimatlichen See – und müssen erkennen, dass es keinen Weg zurück gibt. Der Versuch, in bewährter Weise Fische zu fangen, ist erfolglos. Die Netze, die früher gefüllt waren, bleiben leer. Es fällt uns nicht schwer, in den Worten des Evangeliums Erfahrungen unserer Gemeinden heute zu erkennen. Im Frust des Petrus spiegelt sich so manches, was wir als Kirche gegenwärtig erleben. In dieser Situation erfährt Petrus sich herausgefordert, vom Boot aus ins kalte Wasser zu springen. Sein Sprung bringt ihn neu in Berührung mit dem auferstandenen Herrn. Erst in dieser Begegnung begreift er, was sein Auftrag ist: die Liebe zu Jesus Christus und sein Evangelium in der Kultur seiner Zeit zu leben und zu verkünden.
Für uns bleibt dieses Evangelium eine Provokation. Nehmen wir die Bilder jener österlichen Schriftstelle bei Johannes ernst: Das über viele Jahre bewährte Boot trägt nicht mehr. Gefordert ist der Sprung ins kalte Wasser im Vertrauen darauf, dass es Jesus, der Auferstandene ist, der am Ufer auf uns wartet. Die Boote, die den Fischern und ihren Vorfahren über lange Zeit sehr nützlich waren, müssen dafür zurückgelassen werden. Doch die wertvollen Erfahrungen, die mit diesen Booten verbunden sind, nehmen die Frauen und Männer jener ersten Stunde mit auf den Weg in die Zukunft.
Was sind diese wertvollen Erfahrungen, die in die Zukunft tragen? Die Szene am Ufer des See Genezareth gibt uns einige Hinweise. Es ist nämlich derselbe Ort, an dem jene Frauen und Männer geraume Zeit zuvor erlebt haben, dass Jesus sie einzeln beim Namen gerufen hat.
Das ist für uns ein erster wichtiger Hinweis, wenn wir nach dem Weg der Kirche in die Zukunft suchen: Im Alten wie im Neuen Testament finden wir wiederholt sehr präzise Ortsangaben. Es sind konkrete Orte, an denen Menschen erfahren haben, dass Gott mit ihnen Geschichte geschrieben hat. Wenn die österliche Erzählung des Johannesevangeliums wieder am Ort der ursprünglichen Berufung angesiedelt ist, dann kann das für uns bedeuten: Nehmen wir die Orte, an denen unser Glaube gewachsen ist, ernst! Nehmen wir vor allem die wertvollen Erfahrungen mit, die wir an diesen Orten gemacht haben! Seien wir in dieser Haltung offen dafür, wo und wie Gott uns an diesen oder an neuen Orten in bislang unbekannter Weise herausfordern möchte!
Die Bibel erzählt uns davon, dass dort, wo Gott etwas Neues anfangen will, Menschen sich als persönlich angesprochen erfahren. Das ist ein entscheidender zweiter Hinweis für Kir-chenentwicklung: Das Wort Gottes richtet sich an eine Person und wird von einem „Du“ verstanden, weil es auf eine tiefe Sehnsucht in diesem Menschen trifft: Ich möchte angespro-chen werden, ich möchte gemeint sein, ich will ein Gegenüber erleben, dem es um meinen Weg geht. Gott stillt diese Sehnsucht – und dieser Maßstab Gottes muss auch der Maßstab für unsere Glaubenskommunikation in den Gemeinden sein.
Im Sakrament der Taufe feiern wir diese beiden Grunderfahrungen: Gott beruft einen Menschen an einem konkreten Ort und als Person, die er anspricht. Das „Jahr der Taufberufung“, in dem wir als Bistum derzeit stehen, lädt uns ein nachzuforschen, was aus dieser Grunderfahrung Zeit unseres Lebens geworden ist. In welchen Schlüsselmomenten zeigt sie sich? Wie durfte ich auf meinem Weg als Getaufte, als Getaufter erleben, dass ich beim Namen gerufen bin? Welches Ereignis, welche Situation meines Lebens hat mit tiefer berührt und nachhaltig bewegt? Bei welchen Gelegenheiten habe ich erlebt, dass es da jemandem um mich ging, um mein Wachstum als Mensch, als Christin, als Christ?
Ich möchte Sie einladen, in den kommenden Monaten einmal bewusst solche Schlüsselerfahrungen in den Blick zu nehmen:
»Welche Menschen waren und sind für meinen persönlichen Glaubensweg wichtig?
»Welche konkreten Begebenheiten und Erfahrungen haben mir einen tieferen Zugang zum Glauben erschlossen?
Wählen Sie nach Ihren Möglichkeiten eine Zeit des ungestörten Nachdenkens über diese Fragen. Es geht darum, dass Sie sich das vergegenwärtigen können, was damals geschah. Achten Sie vor allem darauf, welche Gefühle und Gedanken das bei Ihnen auslöst. Wo gibt Ihnen diese Erfahrung möglicherweise auch für Ihre jetzige Situation neue Kraft?
In einem zweiten Schritt lade ich Sie als Paar, in der Familie und in den Gruppen und Gremien ein: Nehmen Sie sich bewusst die Zeit, erzählen Sie einander von solchen Erfahrungen. Überlegen Sie, was Sie mit anderen teilen können. Es geht nicht darum, in Erinnerungen zu schwelgen. Persönliche Erfahrungen sind zudem einmalig und unwiederholbar. Ich verbinde mit dem Austausch vielmehr die Einladung, gemeinsam tiefer hinzuschauen: Was hat dazu geführt, dass eine bestimmte Begebenheit die Qualität einer Schlüsselerfahrung bekommen hat?
Wenn ich daran denke, was mir persönlich geholfen hat, in den Glauben hineinzuwachsen, dann fallen mir Menschen ein, die viel Geduld hatten mit meinen Fragen. Wichtig waren für mich auch eine Reihe älterer Menschen, die aber innerlich jung und wach geblieben waren. Sie waren ehrlich daran interessiert, welche für sie neuen Erfahrungen wir jungen Menschen gemacht hatten. Es waren nicht unbedingt diejenigen, die gleich auf alles eine Antwort wussten. Vielmehr waren es Persönlichkeiten, die Fragen aushalten konnten und die sich begeistert zeigten, wenn sich im gemeinsamen Fragen eine unerwartete Perspektive auftat. Geprägt hat mich auch das Zeugnis von Menschen, denen der Glaube entscheidend half, existenzielle Herausforderungen zu bewältigen, daran zu wachsen und nicht zu zerbrechen.
Was wir in solch einem Austausch miteinander entdecken, kann für den weiteren Weg der Kirche sehr wichtig sein. Wir stoßen auf Haltungen von Menschen oder atmosphärische Prä-gungen einer Gemeinschaft, durch die wir selbst tiefer zum Glauben gefunden haben. Unabhängig von den konkreten Situationen werden eben jene Haltungen und atmosphärischen Prägungen auch in anderer Zeit und in anderem Kontext wichtig sein. So können heute Menschen unserer Kultur – wie zuvor wir selbst – tiefer zum Glauben finden. Hier liegt ein Schlüssel von Kirchenentwicklung. Die so erfahrene Nähe zu Jesus Christus hilft uns, anders mit den Aufgaben und Herausforderungen des Lebens umzugehen – auch mit den Aufgaben und Herausforderungen von Kirchenreform.
Zwei Arten von Entscheidungsprozessen
Denn wo wir in unseren Gruppen und Kreisen solche Erfahrungen reflektieren, da drängt dies zur Entscheidung: Mit welcher inneren Haltung begegnen wir künftig sowohl persönlich als auch gemeinschaftlich den Menschen unserer Tage? Es sind also zwei Arten von Entscheidungsprozessen, die in den kommenden Monaten anstehen: Da sind die eingangs genannten größeren Weichenstellungen im Bistum und da ist die Frage nach der inneren Einstellung und Haltung, mit der wir künftig unterwegs sein wollen, um fruchtbar unseren Weg als Kirche zu gehen.
In meinem eigenen Hineinwachsen in eine solche Haltung und Wahrnehmungsfähigkeit hilft mir ein Gebet, das mir bei den Exerzitien, in denen ich mich vor 23 Jahren endgültig für den priesterlichen Dienst entschieden habe, sehr wichtig geworden ist. Ich gebe es Ihnen gerne mit, damit es auch Ihr persönliches Nachdenken und den gemeinsamen Austausch über jene Fragen, die ich eben skizziert haben, begleiten kann:
Herr, öffne meine Augen. Mach weit meinen Blick und mein Interesse, damit ich sehe, was ich noch nicht erkenne.
Herr, öffne meine Ohren. Mach mich hellhörig und aufmerksam, damit ich höre, was ich noch nicht verstehe.
Herr, gib mir ein Herz, das sich deinem Wort und deiner Weisung überlässt und zu tun wagt, was es noch nicht getan hat.
Herr, ich weiß, dass ich nur lebe, wenn ich mich von dir rufen und verwandeln lasse.
Es segne Sie auf die Fürsprache des heiligen Bonifatius der dreieine Gott, der Vater, der Sohn der Heilige Geist. Amen.
Bischof Michael Gerber