Hilfe für Frauen in Not

Sie retten mutig Leben

Image
Vom Inneren eines Autos sieht man durch die Frontscheibe in eine dunkle Nacht. Vor sich erkennt man einen Parkplatz, in einiger Entfernung ein Auto, das gerade anhält, mit rotem Rücklicht.
Nachweis

Foto: Lisa Discher

Caption

Auf Parkplätzen entlang der B68 bieten Frauen in der Prostitution ihre Dienste an. Die Streetworkerin Lora vom Talita-Projekt ist aus Sicherheitsgründen immer mit ihrer Kollegin im Auto, wenn sie zu Einsätzen fährt.

Das Projekt Talita in Osnabrück kümmert sich um Frauen in Not – Prostituierte, Opfer von Menschenhandel, Frauen in der Zwangsheirat. Streetworkerin Lora und eine Kollegin sprechen Betroffene an Straßen und in Bordellen an.

Die Scheibenwischer ziehen gleichmäßig über die Frontscheibe, während Lora einen Leihwagen durch den Regen steuert. Gerade ist sie unterwegs zu einem Einsatz. Eine Kollegin sitzt neben ihr. Es ist immer dieselbe Route, immer das gleiche Auto. Ein- bis zweimal im Monat fahren sie raus aus dem Osnabrücker Stadtgebiet, rauf auf die B68. "Von Freiern werden auch wir oft belästigt", sagt Lora. Sie heißt eigentlich anders, nutzt einen Aliasnamen. Zur Sicherheit.

Mädchen, ich sage dir, steh auf.

Sie arbeitet als Streetworkerin bei Talita, einem Osnabrücker Projekt der Beratungsstelle Solwodi. Talita? Ein Verweis auf das biblische "Talita kum" im Markusevangelium - Worte, die Jesus zur Aufforderung nutzt: "Mädchen, ich sage dir, steh auf." Talita bietet konkrete Unterstützung beim Ausstieg aus der Prostitution.

Der Zwang ist oft unsichtbar

Als Streetworkerin besteht Loras Aufgabe darin, regelmäßig in Bordelle und an Straßenstriche zu gehen. In und um Osnabrück sucht sie Prostituierte auf, bietet ihnen Unterstützung an, immer wieder. Unterbricht den Alltag der Frauen mit heißem Kaffee oder Tee – wenn sie das wollen. Viele von ihnen werden mit Versprechungen nach Deutschland gelockt und in der Prostitution ausgebeutet, erzählt Lora. Die Frauen unterschreiben offizielle Dokumente bei deutschen Behörden, damit ihre Tätigkeit legal ist – stets begleitet von den Zuhältern, die sie hierher gebracht haben. Und das, obwohl die meisten der Frauen weder lesen noch schreiben können – viele kommen aus Rumänien und Bulgarien. Solche Behördengänge sollen der Sicherheit der Frauen dienen. Lora sagt, das führe jedoch oft dazu, dass der Zwang von Betroffenen unsichtbar werde.

Prostitution kannte ich nur aus Filmen wie Pretty Woman. 

Vor zehn Jahren begleitete Lora einen Einsatz zu einer Prostituierten an der B68. Damals noch als Dolmetscherin. Bulgarisch. Vor Ort war sie erschüttert, kannte Prostitution nur aus Filmen wie „Pretty Woman“. Die Bulgarin, für die sie übersetzte, war erst 18 Jahre alt. Lora merkte: Die gemeinsame Sprache sorgte für Vertrauen. Die Streetworkerinnen konnten so Kontakt zu der Bulgarin aufnehmen, die es später aus der Prostitution schaffte. Inzwischen fährt Lora regelmäßig auf die Straße. 

Ein wichtiges Projekt, ein wichtiger Verein

Solwodi ist ein Verein mit Schutzwohnungen und allgemeine Anlaufstelle für Frauen in Not. Die Themen: Gesundheit, Gewalt, Ausbeutung. Die Mitarbeiterinnen begleiten Betroffene zu Ärzten und Behörden, geben Sprachkurse oder organisieren bei Bedarf den Umzug in eine Schutzwohnung. Unter dem Dach von Solwodi entstand vor sechs Jahren das Osnabrücker Talita-Projekt mit seinen zwei Streetworkerinnen. Die Leiterin des Vereins: Martina Niermann. Die Tätigkeit sei keine einfache, gibt sie zu. Man müsse sich abgrenzen können von den Erzählungen der Frauen. Das geht, sagt sie, wenn man den Menschen sieht, der vor einem steht – nicht nur das, was er durchmachen musste.

Noch immer regnet es, während Lora die gewohnte Route entlang der B68 fährt. Kurze Zeit später lenkt sie das Auto auf einen Parkplatz zwischen Bramsche und Alfhausen. Frauen, die hier öfter stehen, sieht man kaum. Und kaum etwas hat sich sonst in den letzten Jahren verändert. Vereinzelt gibt es Frauen, die immer wieder kommen. Sie erkennen Lora und ihre Kollegin, winken ihr zu, noch bevor sie aus dem Auto steigt. Reden wollen sie selten. Die Arbeit mit den Prostituierten ist Routine für Lora. Auf eine Frau zugehen, sie ansprechen, Telefonnummer zustecken, sich Notizen im Kopf machen: Herkunft, Name, Adresse. Stichwortartige Lebensgeschichten und Schicksale der Frauen, die im Regen stehen.

Wie rettet man ein Leben?

„Was machst du hier, ist dir nicht kalt?“, fragt Lora eine der Frauen auf Bulgarisch, dann nähern sich die Scheinwerfer eines Autos. „Ich warte nur“, antwortet sie. Heruntergelassenes Fenster. Schrittgeschwindigkeit. Augen, die Körper mustern. Hinter dem Steuer sitzt ein Mann. Fremde Blicke tasten die Gesichter der Frauen ab. Ganz langsam, als suchten sie dort nach einem Preisschild. „Wie viel kostest du?“, kommt es aus dem dunklen Auto.  

Wo der Asphalt bröckelt und in den Grünstreifen am Ende des Parkplatzes übergeht, gibt es nur vorbeirasende Autos, Frauen und Freier – für Lora ein vertrauter, für die Frauen oft einziger Ausblick. Darum bringt Lora manchmal Thermoskannen mit. Holt sie aus dem Kofferraum, bietet den Frauen daraus heißen Kaffee oder Tee an. Eine kleine Geste soll es sein, die den Alltag dort draußen unterbricht. Wenn auch nur kurz. Nicht selten ist Unterbrechung auch Anstoß, ein Ruck – ein unausgesprochenes „Mädchen, steh auf.“ Talita kum.

In diesen Tagen feiert der Osnabrücker Verein Solwodi sein 25-jähriges Bestehen. Fast genauso lange ist Martina Niermann schon dabei, bald geht sie in den Ruhestand. Ihr wird im Kopf bleiben, wie vielen Menschen die Mitarbeiterinnen von Solwodi und Talita in dieser Zeit geholfen haben. "Eine Frau kam nach Jahren zurück nach Osnabrück", erzählt sie. "Sie hat bei mir geklopft und gesagt: Danke, ihr habt mir hier das Leben gerettet." 

Lisa Discher

Zur Sache

1985 gründet Schwester Lea Ackermann in Kenia Solwodi (Solidarity with women in distress) – zusammen mit Frauen, die zur Prostitution gezwungen waren. Ackermann berichtet 1997 dem damaligen Generalvikar Theo Paul von dem Projekt. Der initiiert daraufhin auch in Osnabrück die Gründung einer Solwodi-Beratungsstelle inklusive einer Schutzwohnung. Bedrohte und traumatisierte Frauen erhalten dort seitdem konkrete Unterstützung, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen und ein selbstständiges Leben führen zu können. Seit 2018 finanziert der Landkreis Osnabrück das zugehörige Projekt „Talita – Aufsuchende Arbeit im Milieu und Ausstiegsbegleitung“.