Das "Ethik-Eck": Das Handy stets vor Augen
Unverzichtbares Handy?
Die Frage lautet diesmal: „Ständig erlebe ich, wie bei Konferenzen im beruflichen Umfeld, aber auch bei privaten Restaurantbesuchen, Menschen in meiner Nähe das Handy stets vor Augen haben. Ich finde das unhöflich. Wie darf ich reagieren?“
Reden hilft
Vor zwei Jahren saß ich im Kontext einer Fortbildung in einer Gruppenübung. Unsere Aufgabe war, etwas zu beobachten und später im Plenum vorzustellen. Als ich als Letzte unserer Gruppe dran war und aufzuzählen begann, was mir aufgefallen war, hörte ich, wie meine Kolleginnen „ahh“ sagten. Hatte ich Falsches gesagt? Es hörte sich an, als würden sie jetzt verstehen, was sie vorher nicht einordnen konnten. Jetzt begriff ich: Ich hatte in der Gruppe Notizen in meinem Smartphone gemacht, das ich noch in der Hand hielt. Völlig selbstverständlich. Anscheinend nicht.
Das, was Menschen in Sachen Smartphone als höflich erachten, hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Es ist nicht nur im beruflichen Kontext normaler geworden, E-Mails übers Smartphone zu schreiben, gemeinsame Kalender und Listen zu führen oder Social-Media-Kanäle zu betreuen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Menschen, die regelmäßig digital fasten oder sich selbst durch Apps in ihrem digitalen Konsum beschränken. Kurzum: Es gibt mittlerweile eine Vielfalt an gängigen Umgangsformen für die Nutzung des Smartphones – insbesondere in sozialen Interaktionen.
Ich kann gut nachvollziehen, dass es je nach Kontext stört, das Smartphone während eines Gesprächs auf dem Tisch liegen zu haben. Es ist ein großer Ablenkungsfaktor, der signalisieren kann: Du hast nicht meine volle Aufmerksamkeit. Und ja, das stört.
Wie darf ich reagieren? – Es ist nicht sicher, ob das Gegenüber die gleichen Vorstellun-gen vom Umgang mit dem Smartphone hat wie ich. Ich habe selten Menschen erlebt, die mit der Anwesenheit ihres Smartphones jemanden absichtlich stören wollten. Spätestens, wenn die Anwesenheit des kleinen Geräts bei der Arbeit oder im privaten Umfeld mich in der Begegnung hemmt oder mich inhaltlich ablenkt, halte ich es für angebracht, über die Umgangsformen in der Freundschaft oder in Arbeitskontexten miteinander zu sprechen. Vielleicht erfahre ich dann, dass es einen sinnvollen Grund für die störende Erreichbarkeit gibt – beispielsweise eine Rufbereitschaft oder ein krankes Kind. Vielleicht war es dem anderen einfach auch nicht aufgefallen, vielleicht stört es den anderen einfach nicht und es ist kein Problem, es auf meine Bitte wieder wegzupacken.
Reden hilft.
Fragen an mich
Oh je, das Handy! Die neuen Medien! Heiß geliebt und abgelehnt! Selbstverständlich und nervig! Für viele unverzichtbarer Teil des Alltags und gleichzeitig zwiespältig.
Diese Medien sind so vieles: Mittel, um sich zu informieren und zu lesen, zu arbeiten und in Kontakt zu bleiben, seine Meinung mitzuteilen, sich zu vernetzen und politisch zu agieren. Vor allem: dazu zu gehören. Das Unbehagen dabei ist: Kontrolle und Übersicht verlieren zu können, zu Kontaktformen gezwungen zu werden, die nicht passen. Dass manches überhitzt und allzu aufgeregt erscheint.
Die ständige Verbundenheit hat ein Doppelgesicht. Gleichzeitig chancenreich und beängstigend, kontaktfördernd und Druck machend. Und das markiert oft Unterschiede zwischen Generationen und Gruppen.
Also, was stört hier denn genau? Dass es Welten gibt, zu denen man keinen Zugang hat? Dass man nicht mehr mitkommt, dass es eine indirekte Aufforderung zu geben scheint, dabei zu sein? Dass mir Kompetenzen fehlen, auch schnell etwas „nachzuschlagen“, während diskutiert oder die Pizzeria nach ihrer Bewertung im Internet ausgesucht wird? Diese bestimmte App zu kennen?
Oder ist es tatsächlich die abgelenkte Aufmerksamkeit im direkten Gespräch?
Es lohnt, die eigenen Gefühle und die eigene Haltung zu überprüfen. Uns stört bei anderen ja oft, was wir selbst nicht klar haben. Also kommen jetzt die Fragen an mich, nicht an die anderen: Passt es für mich, einen bestimmten Messenger-Dienst zu haben, möchte ich diesen Newsletter oder jenen? Will ich schnell antworten (müssen) oder entspricht das mir nicht? Will ich diese Art Kontakt oder jene?
All das kann ich klären und beeinflussen und mitteilen.Wenn ich einen klaren Umgang mit mir selbst habe, kann ich andere eher lassen. Und muss nicht meinen Maßstab anlegen. Dann sind viele Handy-Phänomene Altes im neuen Kleid: Wenn in der Bahn statt Zeitung das Smartphone die private Sphäre abgrenzt, wenn der Blick in der Konferenz das Handy sucht, statt abgelenkt ins Weite durchs Fenster zu schweifen, wenn statt mit Papieren mit dem Internet Kompetenz gezeigt wird.
Wo es gesprächswürdig wird: am gemeinsamen Küchentisch beim Essen, wenn das Kind etwas fragt, wenn man sich in der Pizzeria gegenübersitzt. Dann kann der dauernde Blick auf das Handy Hinweis auf etwas anderes sein: etwas stört die Aufmerksamkeit, die gemeinsame Präsenz; vielleicht Spannungen. Von was wird abgelenkt? Wie wichtig sind wir uns? Wo sind die Ge-
danken und Gefühle gerade?
Vielleicht belastet was, möchten wir gerne hier sein? Darüber lohnt es sich zu reden.
Auf Regeln einigen
Mal ehrlich: Wer kennt diese Situation nicht? Man trifft sich mit Kolleg:innen zum Mittagessen, unternimmt einen Ausflug mit Freund:innen – und schon nach wenigen Minuten greifen die Ersten aus der Runde nach ihrem Smartphone. („Kommt Martin später? Ich frage kurz nach.“ – „Zeig uns doch die Fotos vom letzten Urlaub!“ –„Oh! Eine Mail der Chefin! Ich reagiere schnell.“) Das Mobiltelefon ist unser ständiger Begleiter und nimmt Einfluss auf unsere Kommunikation. In vielen Fällen erleichtert es den Austausch, kann es über Distanz hinweg ein Gefühl von Verbunden- und Vertrautheit schaffen und selbst im direkten Kontakt echte Impulse setzen, zum Beispiel wenn über das Handy abgerufene Inhalte wie etwa Fotos in unsere Gespräche einfließen. Zugleich sind wir in unseren Begegnungen aber auch immer wieder mit Situationen konfrontiert, in denen sich das Mobiltelefon als massiver Störfaktor für unsere Unterhaltung erweist.
Die Fragestellung scheint deutlich von einer solchen Erfahrung geprägt zu sein und gibt Hinweise darauf, vor welche Konflikte uns diese Technik stellt.
Was bislang kaum durch Etikette geregelt war, verlangt heute nach einer gezielten Reflexion. „Etikette“ meint dabei einen Verhaltenscodex, der Interaktionen in sozialen Gefügen regelt, das heißt auf Grundlage von bewährten Einsichten Orientierung für das konkrete Miteinander in gewissen Kreisen oder Situationen bietet und auf diese Weise einen wichtigen Rahmen vorgibt. Was wir gewöhnlich als „Anstand“, „Manieren“, „Benehmen“ oder „Höflichkeit“ bezeichnen, ist allerdings nicht einfach in Stein gemeißelt, sondern stets abhängig von Kultur oder Religion ebenso wie von gesellschaftlichen Entwicklungen oder auch technologischen Fortschritten. Smartphones sind hierfür ein gutes Beispiel. Bisherige Regeln eines „höflichen“ Umgangs können nicht weiter ihre Geltung beanspruchen, ohne diese neue Situation zu berücksichtigen.
Wir dürfen mit anderen Worten nicht so tun, als ob unser Miteinander völlig unberührt bleibe, einem jeden zeitlichen Kontext enthoben sei. Trotz ihres etwas angestaubten Begriffs bleibt die „Etikette“ offen für Modifikationen, über die ganze Gesellschaften sich unter Einbezug angemessener Expertise mit Geduld und Weitsicht zu verständigen haben.
Bevor Sie sich über das Verhalten von Kolleg:innen und Freund:innen erneut ärgern, machen Sie doch die Probe aufs Exempel und bringen Ihre Frage offen in den Austausch ein. Vermutlich werden Sie sich nicht gleich auf gemeinsame Regeln einigen, aber zumindest könnte eine angeregte Unterhaltung darüber sicherlich dazu beitragen, die eigene Sensibilität für die Ambivalenz dieser Technologie zu schärfen – und den zukünftigen Umgang mit dem Handy ein wenig bewusster zu gestalten.