Wie sich die Fokolar-Bewegung wandelt
"Verantwortung mit Macht verwechselt"
Zehn Jahre ist Chiara Lubich nun tot: Am 14. März 2008 starb mit der 88-jährigen Italienerin eine der großen spirituellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. 1943 hatte Lubich die Fokolar-Bewegung gegründet, eine ökumenisch ausgerichtete Gemeinschaft, die sich besonders für menschliche Verständigung und einen Dialog der Glaubensrichtungen engagiert. Seit ihrem Ableben befinde sich die Bewegung im Umbruch, sagt die deutsche Fokolar-Sprecherin Andrea Rösch (58) aus Ottmaring bei Augsburg.
Frau Rösch, wäre Chiara Lubich damit zufrieden, so wie die Fokolar-Bewegung heute dasteht?
Ich glaube schon. Denn Chiara hat immer gesagt, dass sie den Menschen, die nach ihr kommen, nur eines hinterlassen will: das Evangelium. Und die Begeisterung für die Botschaft Jesu ist bei uns ungebrochen, wir werben weiter dafür, wir legen weiter Zeugnis davon ab, wir verbinden dadurch weiterhin die Menschen.
Das klingt, als habe Lubichs Tod keinen Einschnitt für die Bewegung bedeutet. Dabei gilt die Zeit direkt nach dem Hinscheiden einer Gründergestalt allgemein als schwierigste Phase für eine geistliche Gemeinschaft. Hatten Sie keine Existenzangst?
Ein Einschnitt war der Tod sehr wohl, aber Angst um den Fortbestand der Bewegung hatte ich nicht. Denn Chiara hat schon zu Lebzeiten darauf hingewiesen, dass nicht sie wesentlich sei, sondern das Leben mit Jesus in unserer Mitte. Darauf, sagte sie immer, sollten wir uns konzentrieren, nämlich dass jeder von uns Träger des Charismas ist.
Was heißt das?
Jeder Einzelne hat durch den Geist Gottes Gaben und Befähigungen erhalten. Damit ist er in der Lage, einem anderen Menschen Begegnungen mit Gott zu verschaffen, etwa indem man ihm freundlich und wertschätzend gegenübertritt. Vermittelt wird dadurch das Gefühl des Angenommenseins - dadurch etwa, dass man dem Gegenüber auch dann eine Tasse Kaffee anbietet, wenn er viel zu spät zu einer Verabredung gekommen ist.
Inwiefern war Lubichs Tod dann ein Einschnitt?
Insofern, als unsere Bewegung bis dahin zentralistisch aufgebaut war. Seit zehn Jahren ändert sich diese Struktur: Immer mehr Verantwortung wird von unseren lokalen oder regionalen Gruppen wahrgenommen. Diese Wandlung ist ein Prozess, einer, der nicht immer einfach ist. Das bedeutet für unsere Leitung in Rom, Entscheidungen in die Fläche abzugeben. Andersherum mussten sich viele Fokolare erst einmal daran gewöhnen, aus dem Schatten einer Leitfigur herauszutreten und sich selbst in die Pflicht zu nehmen.
Apropos Leitfigur: In der Vergangenheit gab es Kritik an einem sektenähnlichen Personenkult um Lubich. Die Rede war auch von einer zu starken Abhängigkeit der Mitglieder sowie einer Diskrepanz zwischen dem Gedanken der Einheit aller Gottesgeschöpfe und der praktizierten Geschlechtertrennung. Was antworten Sie darauf?
Es schmerzt, mit dem Begriff Sekte in Verbindung gebracht zu werden. Die Kritik am Personenkult ist heute nicht mehr haltbar, war aber früher teilweise begründet. Es gab ihn an manchen Orten, wenn auch aus historischen Gründen nicht in Deutschland. Chiara selbst war daran nie gelegen. Auch gab es Schieflagen in unserer Führung. Manche haben Verantwortung mit Macht verwechselt. Deshalb haben wir in den vergangenen zehn Jahren neue Strukturen geschaffen. So besetzen wir unser Präsidentenamt nicht mehr dauerhaft, sondern nur noch für maximal zweimal sechs Jahre.
Und die Geschlechtertrennung?
Die gilt nur noch für die Kerngemeinschaften, deren Mitglieder ein gottgeweihtes zölibatäres Leben gewählt haben. Für sie lebt es sich so unkomplizierter. Bei allen anderen Treffen und Veranstaltungen, etwa Jugendlagern, gibt es keine Geschlechtertrennung mehr. Dass das früher anders war, hat sicher auch etwas mit der damaligen Zeit zu tun.
Vor welchen Herausforderungen steht Ihre Bewegung heute?
Bei der bisher letzten Fokolar-Generalversammlung 2014 haben wir drei Maßgaben für die Zukunft benannt. Erstens «hinausgehen»: Wir wollen uns verstärkt um die Menschen an den Rändern der Gesellschaft kümmern. Zweitens «gemeinsam»: Wir wollen uns vor Ort zu tatkräftigen Gruppen zusammenschließen, um auf die lokalen Herausforderungen individuell eingehen zu können - in Südamerika etwa auf Schulbildung, hier in Deutschland vor allem auf eine vertiefte Ökumene. Und drittens «gut vorbereitet»: Wir müssen uns beispielsweise damit befassen, wie wir damit umgehen, dass wir zunehmend überaltern.
Das klingt fast so, als kämen die Fokolare an ihr Ende.
Nein, nein. Aber selbst, wenn es so wäre, bliebe noch Hoffnung: Bei Jesus ist das Wesentliche ja auch erst am Ende am Kreuz passiert.
kna