Anstoss 25/2018

Vergeben – wie schwer kann das sein

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Manchmal gibt es Begegnungen, die mich als Christin radikal anfragen. Neulich hatte ich so eine Begegnung. Da stand ein Artikel in der Zeitung, der von einem Schauprozess in der DDR im Jahr 1960 erzählt.


Darin ging es um einen jungen Mann und Familienvater, der infolge dieses Schauprozesses keine 30 Jahre alt wurde. Ein Vierteljahr vor Prozessbeginn steht der Ausgang eigentlich schon fest, denn in dem „Vorschlag für die Durchführung eines Prozesses“ steht auch: „Das Verfahren ist geeignet, aus erzieherischen Gründen gegen S. die Todesstrafe zu verhängen.“ Dass dieser junge Mann vor Gericht stand, ist auch der Tatsache geschuldet, dass er von seinem vermeintlich besten Freund in eine Falle gelockt und dann festgenommen wurde. Jedes Flehen um Gnade ist umsonst.
Erst nach der Wende erhält seine Familie sein letztes Lebenszeichen: einen Brief, den er seinen Angehörigen wenige Minuten vor seiner Hinrichtung schreibt und der mit dem Satz endet: „Die Größe eines Menschen liegt in der Verzeihung, die er spenden kann, und Verzeihung ist das Schönste, was das Menschenherz uns gibt.“

Puh! Das war wirklich stark. Verzeihen, vergeben – jeder weiß, wie schwer das sein kann. Und nicht nur in dieser Größenordnung. Aber es gehört, will ich authentisch christlich leben, unabdingbar dazu. Jesus spricht nicht davon, dass irgendwann die Grenze des Verzeihens erreicht ist. Ganz im Gegenteil. Jedes Mal, wenn ich das „Vater unser“ bete, bitte ich Gott darum, mir meine Schuld zu vergeben. Ganz selbstverständlich bete ich dann weiter:  „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Manchmal durchzuckt es mich, wenn mir in diesem Moment Personen einfallen, denen ich irgendwie gram bin, die mich auch wirklich tief verletzt oder mir in irgendeiner Weise geschadet haben. Doch diesbezüglich macht Jesus keine Zugeständnisse: Von Gott Vergebung bekommen und selbst vergeben, das gehört zusammen. Wenn ich es genau betrachte, kann ich in dieser Forderung Jesu wieder einmal die ungeheure Liebe Gottes erkennen, die uns vor einem unversöhnten Leben bewahren möchte. Denn unversöhnt mit sich oder den anderen zu leben – das ist doch irgendwie die Hölle.
 
Andrea Wilke, Erfurt