Versorgt oder aussortiert?
Dr. Thomas Sitte ist Palliativmediziner für Kinder und Erwachsene. Der Fuldaer Arzt sieht täglich Menschen mit schweren Krankheitsverläufen. Er hat sich Gedanken gemacht zur Corona-Pandemie und ihren Folgen.
„Es gibt harte Einschnitte. In meiner täglichen Arbeit mit schwerstkranken und sterbenden Kindern, aber auch mit Erwachsenen jeden Alters erlebe ich nun viele Ängste“, beobachtet Dr. Sitte. Dazu zählen Fragen wie: „Werde ich noch versorgt oder aussortiert? Wird mein Kind noch am Leben erhalten werden bei der nächsten Komplikation oder vielleicht für einen anderen geopfert werden?“ Das seien Fragen, auf die von ihm täglich Antworten erwartet würden und von denen und deren Auswirkungen sich die meisten Menschen (noch) keine Vorstellung machen können. Neben den ihm anvertrauten kleinsten und großen Kindern, die unter Intensivpflege zuhause versorgt werden, treffe es jetzt extrem hochaltrige Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen.
Persönliche Freiheit über alles gesetzt
Der Palliativmediziner erinnert an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Suizid-assistenz am vergangenen Aschermittwoch. Demnach gehe die persönliche Freiheit im Leben und Sterben über alles, auch wenn dadurch andere Menschen zu Schaden kommen können und der Schutz der Schwächsten deshalb nachrangig sei. Sitte: „Bald darauf wurde zum Schutz dieser Schwächsten, dieser Gefährdeten eine Besuchseinschränkung, teils auch ein Besuchsverbot und eine Ausgangssperre in Pflegeeinrichtungen verhängt. Wir alle wissen, wie wichtig die sozialen Kontakte gerade für Menschen mit Demenz sind. Die Gefahr ist sehr hoch, dass Demente sich aus dem Leben zurückziehen, wenn der Kontakt zur Familie plötzlich wegfällt. Hier kommen manche Menschen zu Schaden, weil viele geschützt werden sollen. Ist das richtig? Ich habe es nicht zu entscheiden, aber in diesem Krisenfall muss ich es akzeptieren.“
„Ob es ein Leben nach dem Tod gibt, ist reine Glaubensfrage. Aber eines ist sicher, es gibt ein Leben vor dem Tod!“ Und dazu gehört für den Arzt der Aufbau sozialer Beziehungen und Bindungen in gesünderen, besseren Tagen. Sitte: „Ganz wichtig ist es, Menschen zu besuchen und den Kontakt mit ihnen zu halten, wenn sie in Pflegeeinrichtungen leben und dort betreut werden. Es ist wichtig, für unsere Angehörigen in den Pflegeeinrichtungen, aber auch für uns selber.“
Sitte sagt weiter: „Wir erleben das Leben in seinem Lauf. Wir können Stück für Stück auch Abschied nehmen vom Gewohnten, von dem Menschen, wie wir ihn früher erlebt und gesehen haben.“ Dies sei für die Besucher neben allem anderen auch ein gutes Stück Trauerarbeit.
Abstand am Grab ist jetzt bittere Realität
„Von Beileidsbekundungen am Grabe bitten wir Abstand zu nehmen.“ Dieser Satz ist in Zeiten der Corona-Pandemie bittere Realität. Was geschieht aber, wenn es nur eine sehr kleine Trauerfeier gibt? Oder, wenn dort nicht kondoliert werden kann oder darf? Sitte: „Oft sind danach die Beziehungen gestört, weil beide Seiten völlig verunsichert sind. Alle Trauernden kennen den Eindruck, dass Bekannte, die ihnen auf der Straße entgegenkommen, plötzlich abbiegen oder die Straßenseite wechseln. Das gilt ganz besonders für Eltern, die ein Kind verloren haben! Obwohl gerade sie vielleicht am meisten Trost und Zuspruch brauchen.“
Schmerz und Leid mit gutem Freund teilen
Der Arzt verweist auf ältere Hinterbliebene, die jetzt ihren Partner verloren haben: „Sie brauchen die Pflege der bestehenden Beziehungen besonders dringend. Ich habe gerade von einer Witwe berichtet bekommen, wie schmerzlich es für sie ist, dass gerade jetzt die Freunde wegbleiben. Die Einsamkeit trifft unter Corona noch viel härter.“ Dem Palliativmediziner kommt dazu ein Absatz aus Astrid Lindgrens Kinderbuch „Ronja Räubertochter“ in den Sinn: „Lange saßen sie da und hatten es schwer. Aber sie hatten es gemeinsam schwer und das war ein Trost. Leicht war es trotzdem nicht.“ Sitte: „Genauso geht es, wenn Schmerz und Leid mit einem guten Freund geteilt wird.“ (pm/st)