Jüdisches Leben in Deutschland

Vielfältig, liberal und konservativ

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1700 Jahre alt ist die Geschichte der Juden in Niedersachsen. Sie ist geprägt von Ausgrenzung, Rechtsunsicherheit und Blütezeiten. In den vergangenen 75 Jahren nach der Schoah haben sich auch hier wieder etliche jüdische Gemeinden etabliert.


2019 feierte die Liberale Jüdische Gemeinde Etz Chaim in Hannover ihr zehnjähriges Bestehen. Davor war die Synagoge eine evangelische Kirche.

Koscheres Essen, fröhliche Feste, Musik und Diskussionsforen: „Wir sind so orthodox, dass wir alle Richtungen unseres Glaubens unter unserem Dach beherbergen.“ Mit diesem Satz bringt Michael Fürst auf den Punkt, was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint: Orthodoxe, konservative, liberale, aschkenatische und sefardische Juden, sie alle gehören zum Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, dem der hannoversche Rechtsanwalt und Notar seit mehr als 40 Jahren als Präsident vorsteht. Fürst ist auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hannover in der Haeckelstraße, der größten der insgesamt zwölf jüdischen Gemeinden zwischen Oldenburg, Osnabrück, Braunschweig und Göttingen. Jüngst erst hat die Jüdische Gemeinde in Hannover, sie ist mit knapp 5000 Mitgliedern die größte Gemeinde in Niedersachsen, einen neuen Rabbiner bekommen, Shlomo Afanasev. Der vierzigjährige Familienvater von fünf Kindern stammt aus Usbekistan und kam mit seinen Eltern 2002 nach Deutschland. Der traditionsbewusste Rabbiner bezeichnet sich selbst als „modernen orthodoxen Rabbiner“.

Michael Fürst kann auch hier verschiedene Dinge zusammen denken. „Wir sind offen für alle Strömungen, aber der Kultus ist konservativ“, betont er mit Blick auf „seine“ Gemeinde in Hannover. Der Präsident des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen skizziert die unterschiedlichen Formen und Traditionen, nach denen die jüdischen Gemeinden ihre Gottesdienste gestalten: In orthodoxen Gemeinden wird er in hebräischer Sprache gefeiert, mit deutscher Predigt, Frauen und Männer sitzen beim Besuch der Synagoge getrennt. In liberalen Gemeinden gestaltet sich der Ritus etwas anders. Hier sind auch Frauen als Rabbiner zugelassen, etwa in der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg mit ihren derzeit rund 280 Mitgliedern. Diese Gemeinde wurde 1992 wiedergegründet, 1995 kam mit Bea Wyler die erste Frau auf den Posten des Rabbiners. Ihr folgte 2010 mit Alina Treiger die erste Frau, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland ordiniert wurde.
 


Rebecca Seidler.

Die Jüdische Gemeinde zu Oldenburg beteiligt sich mit der ersten jüdischen Late-Night-Show „Freitagnacht Jews“, die der Schauspieler und Musiker Daniel Donskoy entwickelt hat, an dem breit gefächerten Programm, das in diesem Jahr an 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland erinnert. Donskoy findet in seiner Show für den WDR einen erfrischend neuen Ton, um auszudrücken, was Jüdischsein heute so alles bedeuten kann. Bundesweit haben zahlreiche Gemeinden und Institutionen ein breites Angebot geschaffen, um jüdische Traditionen und jüdisches Leben in ihrer Strahlkraft sichtbar zu machen: mit Konzerten, Dialogforen, Vorträgen oder Workshops. In der langen Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland, die mit der Gründung der ersten jüdischen Gemeinde 321 in Köln in einem Dekret von Kaiser Konstantin bezeugt wird, gibt es viele dunkle Kapitel – sie gipfelten im Zivilisationsbruch der Shoa.

Nach den unermesslichen Gräueltaten unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gab es kaum noch Juden in Deutschland, nur wenige hatten den Nazi-Terror und die Deportationen überlebt. Zahlreiche von den Nazis verschleppte oder vor erneuten Pogromen der Nachkriegszeit geflohene Juden aus Osteuropa kamen damals als „Displaced Persons“ nach Hannover. Zunächst wuchsen die jüdischen Gemeinden nur langsam, etwa in Hannover, Braunschweig und Osnabrück. Doch später, nach dem Fall der Mauer, verließen zwischen 1989 und 2002 mehr als 1,5 Millionen Juden die ehemalige Sowjet­union und ihre Nachfolgestaaten. Die jüdischen Familien kamen über das „Kontingentsflüchtlingsgesetz“ der Bundesrepublik nach Deutschland, bis 2005 nahm die Bundesrepublik mehr als 200 000 Menschen auf. Den Zuwanderern war es in ihrer Heimat verboten, ihre Religion zu praktizieren. Allein die Jüdische Gemeinde in Hannover wuchs von rund 380 Mitgliedern im Jahr 1989 auf ihre heutige Stärke. Zahlreiche neue Gemeinden entstanden in Niedersachsen zwischen Delmenhorst und im Landkreis Hameln-Pyrmont, der Dachverband hat heute um die 8000 Mitglieder. Sämtliche Gemeinden haben ein eigenes Profil und unterschiedliche Angebote für ihre Mitglieder aus dem religiösen Bereich, aber auch Sprachkurse, Yoga-Stunden sowie kulturelle und soziale Projekte.

1995 gründete sich die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover, sie ist mit rund 800 Mitgliedern aus 18 Nationen die größte im deutschsprachigen Raum. Die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover gehört der „World Union for Progressive Judaism“ an und bekennt sich zu den „35 Grundsätzen“ der Union Progressiver Juden in Deutschland, hier gelten für Frauen und Männer die rituellen Gebote gleichermaßen. 2007 bezog die Liberale Jüdische Gemeinde die ehemalige evangelische Gustav-Adolf-Kirche in Hannover-Leinhausen und baute sie zum jüdischen Gemeinde-, Bildungs- und Kulturzentrum Etz Chaim aus. Mit Synagoge, Bibliothek, Jugendzentrum und der ersten liberal-jüdischen Kindertagesstätte mit inzwischen 40 Plätzen.  

„Wir sind eine sehr debattierfreudige Gemeinde, wir legen großen Wert auf einen lebendigen Austausch“, betont die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover Rebecca Seidler. „Das gehört zu unserer Tradition: zwei Juden, drei Meinungen. Diese Vielfalt ist uns wichtig.“ Inzwischen gibt es niedersachsenweit zwischen Celle und Göttingen sieben liberale jüdische Gemeinden mit insgesamt rund 1200 Mitgliedern, die dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinde von Niedersachen angehören.  „Dabei hat jede dieser Gemeinden ihre eigene Entstehungsgeschichte“, erläutert Rebecca Seidler. Gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Margarita Suslovic ist die promovierte Sozialpädagogin und Unternehmensberaterin verantwortlich für das landesweite Kulturprogramm der liberalen jüdischen Gemeinden im Jubiläumsjahr.

Die Geschichte der Juden in Niedersachen reicht zurück ins Mittelalter. In Städten wie Helmstedt, Goslar, Hameln, Braunschweig, Göttingen, Hannover und Hildesheim lebten damals Juden, doch bis ins 19. Jahrhundert hinein war ihr Leben geprägt von Ausgrenzung und Rechtsunsicherheit. Erst 1842 kam es zu einer rechtlichen Gleichstellung jüdischer Einwohner im damaligen Königreich Hannover. Viele jüdische Familien zogen damals in die aufstrebenden Städte, errichteten neue Synagogen, erweiterten ihre Schulen und bauten ihre Wohlfahrtseinrichtungen aus. Allein in Hannover wuchs die Gemeinde, die um 1800 kaum 300 Mitglieder hatte, auf rund 6000 Mitglieder an und zählte nach 1920 zu den größten Gemeinden in Deutschland.
 


Michael Fürst.

Eine zentrale Rolle für die Entwicklung der jüdischen Aufklärungs- und Reformbewegung spielte die jüdische Gemeinde in Seesen. 1810 wurde auf dem Gelände der Jacobson-Schule die Synagoge eingeweiht, sie gilt als frühestes architektonisches Zeugnis der jüdischen Aufklärungs- und Reformbewegung in Deutschland, mehr noch: In Seesen entstand die erste jüdische Reformbewegung weltweit. Der einflussreiche Braunschweiger Bankier Israel Jacobson richtete in Seesen die erste interreligiöse Schule für jüdische und christliche Kinder ein. Im Ritus der Gottesdienste wurden grundlegende Veränderungen vorgenommen: Es wurden deutsche Gebete gesprochen und es erklangen Orgel- und Chormusik. Dabei ging es auch um den gleichberechtigten Dialog mit den Christen. Die Synagoge wurde in der Pogrom-Nacht vom 9. zum 10. November 1938 vollständig niedergebrannt. Heute gibt es dort keine liberale jüdische Gemeinde mehr, die verbliebenen Mitglieder besuchen den Gottesdienst in der liberalen Jüdischen Gemeinde in Göttingen, die dort neben der Jüdischen Kultusgemeinde für Göttingen und Niedersachsen besteht.

Längst hat sich ein äußerst vielstimmiges jüdisches Gemeindeleben in Niedersachsen entwickelt. So kam in den 1990er-Jahren eine Gruppe aus der ehemaligen Sowjetunion nach Hannover, die eine jahrtausendealte Tradition lebendig hält und einen eigenen Ritus pflegt. Das Jüdisch-Bucharisch-Sefardi­sche Zentrum in Ricklingen mit mehr als 300 Mitgliedern ist das größte in Deutschland. Die orthodoxe Gemeinde hat die ehemalige evangelische Maria-Magdalena-Kirche in Ricklingen zur Synagoge umgebaut. Diese Gemeinde gehört zum Dachverband der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, im Gegensatz zur tief religiösen orthodoxen jüdischen Chabad-Bewegung, die in diesem Jahr ihr Bildungs- und Begegnungszentrum im ehemaligen Bismarckbahnhof in Hannover eingerichtet hat.

Das Judentum hat eine breite Basis, die Gemeinden setzen unterschiedliche Schwerpunkte in ihrer Arbeit. Und doch fehlt es vielerorts an Nachwuchs, einige Gemeinden überaltern, ähnlich wie in den christlichen Kirchen. Mit Bildungs- und Familienarbeit wollen die Gemeindemitglieder verstärkt junge Menschen erreichen. Bereits 2001 fand sich in der liberalen Gemeinde in Hannover die Gruppe „Jung und Jüdisch“ für junge Erwachsene zusammen. „Wir brauchen neue Bilder für ein Miteinander“, sagt die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover und Antisemitismusbeauftragte des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinde von Niedersachsen Rebecca Seidler.

Dialogfähig zu bleiben in einer demokratischen Gesellschaft und dabei jüdisches Leben in allen Facetten sichtbar zu machen, bunt und lebendig – auch das gehört zur Botschaft des Festjahres. Es ist zugleich ein Appell für die Zukunft. „Noch nie gab es so ein vielfältiges Judentum in Deutschland“, betont der Präsident des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen Michael Fürst. „Wie sich jüdisches Leben jeweils vor Ort gestaltet, das kann, darf und muss jede Gemeinde selbst entscheiden.“

Karin Dzionara