Paulus Sehnsucht nach dem Tod

Vom Sterbenwollen

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„Für mich ist Sterben ein Gewinn“, schreibt Paulus. Schließlich glaubt er fest, nach seinem Tod Christus zu begegnen. Welche Freude! Auch heute freuen sich Menschen auf den Tod, sagt Diakon Carsten Lehmann. Aber Angehörige leiden.

Ein offenes Fenster in einem Altenheim
In Krankenhäusern, Altenheimen und Hospizen warten Menschen auf den Tod – und manche freuen sich drauf.

Von Susanne Haverkamp 

Vor einiger Zeit meldete sich bei uns ein betagter Leser mit einem Beitrag für unsere Rubrik „Anfrage“. Warum sich die Ärzte eigentlich so bemühen würden, ihn am Leben zu halten? Zu sterben, zu Gott zu gelangen, ins Himmelreich einzugehen – das sei doch viel besser. Und was eigentlich die Kirche dazu sagt. Daran musste ich beim Lesen des Abschnitts aus dem Philipperbrief denken. Und dieser Leser ist kein Einzelfall. Immer wieder erzählen Menschen genau das von ihren Angehörigen: dass sie irgendwann den Tod herbeiwünschen. Nicht vor allem deshalb, weil sie Schmerzen leiden oder aufgeben, sondern weil sie endlich beim Herrn sein möchten.

„Ich habe das Verlangen, 
aufzubrechen und bei
Christus zu sein – um wie
viel besser wäre das!“

„Ich kenne diesen Wunsch vor allem aus meiner früheren Arbeit im Krankenhaus“, sagt Diakon Carsten Lehmann. Natürlich formulieren die Menschen es anders. „Sie sagen sowas wie: Jetzt will ich, dass der liebe Gott mich holt.“ Oder sie freuen sich darauf, nun bald ihre Lieben wiederzusehen, etwa verstorbene Eltern oder Ehepartner.

Die Angehörigen, sagt Carsten Lehmann, können das oft nur schwer ertragen. „Sie widersprechen sofort: Das darfst du nicht sagen, Papa.“ In solchen Situationen sieht es Lehmann als die Aufgabe von Seelsorgerinnen und Seelsorgern an, Partei für den Kranken zu ergreifen. „Ich sage dann: Doch, das darf man sagen! Oder ich frage zurück: Warum denn nicht?“

Für Lehmann ist solch ein Todeswunsch nichts Schlimmes. „Er bedeutet ja nicht, dass man das Leben geringachtet“, sagt er. „Im Gegenteil: Man kann das, was gewesen ist, sehr hoch schätzen und trotzdem sagen: Jetzt ist auch gut.“ Zumal Leben und Tod zusammengehören. „Dieses Leben ist schon Teil des Reiches Gottes“, sagt Lehmann. „Aber wenn man diesem Leben nichts mehr abgewinnen kann, darf man sich auch auf den anderen Teil freuen.“

Trotzdem ist es immer noch ungewöhnlich, einen Todeswunsch zu äußern. „Angehörige und übrigens auch Ärzte sind darauf fixiert, dass es gut ausgeht. Den Wunsch hinzunehmen, heißt auch zu akzeptieren, dass es jetzt final auf den Tod zugeht.“ Sterbende können das oft besser als die, die zurückbleiben.

„Aber euretwegen ist es 
notwendiger, dass ich am 
Leben bleibe.“

Dass auf Paulus noch wichtige Arbeit wartet, „fruchtbares Wirken“, wie er selbst es schreibt, das ist verständlich. Der Mann – ein brillanter Prediger, Theologe und Gemeindegründer – wird in der jungen Kirche einfach gebraucht. Aber wie ist das mit den Alten oder Schwerkranken? „Wenn ein Mensch sterben möchte“, sagt Diakon Carsten Lehmann, „dann ist das Erste, was die Angehörigen erwidern: Nein, Papa, Mama – wir brauchen dich doch noch!“ Natürlich hätten sie in gewisser Weise recht, denn ein Mensch, der stirbt, hinterlässt eine Lücke in der Familie. „Aber Sterbende haben oft ein Gefühl dafür, dass sie ihren Teil getan haben und jetzt gehen können.“

„Was soll ich wählen? 
Ich weiß es nicht.“

Paulus stellt diese Frage wohl aus rhetorischen Gründen. Es ist kaum zu erwarten, dass er mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen. Er ist sicher davon überzeugt, dass Gott allein der Herr ist über Leben und Tod. Den Märtyrertod zu sterben, mag er bereit sein, zumal er, als er den Brief schreibt, im Gefängnis sitzt. Aber den Tod wählt man nicht, er kommt auf einen zu, man erleidet ihn. Auch Jesus hat das Kreuz nicht gewählt: Wie könnte Paulus dann wählen?

Heute wird die Frage hingegen offen diskutiert: Darf ich mein Ende selbst wählen, meinen Tod selbst herbeiführen? Und darf ich jemanden bitten, mir dabei zu helfen? „Dass jemand nach Sterbehilfe fragt, habe ich so noch nicht erlebt“, sagt Carsten Lehmann. Aber dass Menschen ihr eigenes Leben bewusst verkürzen, das kennt er schon. „Zum Beispiel Krebskranke, die Therapien ablehnen; oder Kranke, die hochdosierte Schmerzmittel haben möchten, obwohl sie wissen, dass die das Leben verkürzen werden.“ Das alles sei ethisch völlig unumstritten, „auch wenn sich Katholiken damit manchmal schwertun“. Oder Menschen, die aufhören zu essen. „Die Angehörigen sagen dann immer: ‚Mama, du musst doch essen!‘ Aber wer das nicht mehr möchte, muss es auch nicht.“ Sagt er als Seelsorger, der danebensteht. „Aber ich weiß, wenn es meine Eltern betreffen würde, könnte ich das auch nur schwer ertragen.“

„Für mich ist Christus das 
Leben und Sterben Gewinn.“

„Was für ein Glaubenszeugnis, wenn jemand so etwas sagt“, meint Carsten Lehmann. Paulus, klar, aber noch viel mehr die Menschen, die er erlebt hat. „Wenn ein sehr alter oder sehr kranker Mensch das formuliert: ‚Ich will jetzt zu Gott‘, das ist doch unfassbar stark.“
Auch für die Angehörigen. „Ich habe das schon oft bei Trauergesprächen erlebt“, sagt der Diakon. „Angehörige erzählen dann, dass Vater oder Mutter gesagt haben: Jetzt geht’s in den Himmel. Und selbst wenn die Kinder diesen Glauben nicht teilen, hält es doch die Tür einen Spalt offen: Vielleicht haben Mama oder Papa ja doch recht!“ Und zumindest sind sie nicht verzweifelt, sondern voller Hoffnung und vielleicht sogar voller Vorfreude gestorben. „Und das zu wissen, hilft den Angehörigen ungemein.“