Jahresserie 2020: Hoffnungsgeschichten
Von Liebe zurück ins Leben getragen
Die Schädeldecke wird ihr mehrmals entfernt. Operationen, Eingriffe, Krankenhausaufenthalte. Vanessa Brandt platzt 2015 ein Aneurysma im Kopf. Die 27-Jährige Caritas-Mitarbeiterin wird zum Pflegefall. Die Ärzte sehen wenig Hoffnung. Doch eine Welle der Hilfsbereitschaft bringt Vanessa zurück ins Leben. Von Anja Weiffen.
„Mama, wie lange dauert diese Scheiße noch.“ Ein Satz der Verzweiflung. Dann, im November 2015, verstummt Vanessa Brandt für zwei Jahre. Carmen Brandt, ihre Mutter, erzählt bei einer Pressekonferenz von dieser Situation. Die Brandts haben zusammen mit der Caritas zu dem Gespräch nach Bingen-Dromersheim ins katholische Pfarrheim eingeladen.
Zuhören, sprechen, gehen – ein Kraftakt
Vanessa Brandt sitzt zwischen Mutter und Vater. Aufmerksam verfolgt sie das Gespräch. Heute kann die junge Frau wieder gehen, wenn auch mit Hilfe. Bei der Pressekonferenz meldet sie sich zu Wort. Sie lacht. Sie nimmt alle Kraft zusammen und drückt ihr Anliegen aus: „Ich will einfach danke sagen. Der Caritas und allen anderen Spendern.“ Einen Journalisten erkennt sie wieder,
der war schon mal da und hat über sie berichtet. Dass sie sich an jemanden erinnern kann, freut sie. Zuhören, sprechen, gehen – für Vanessa ein Kraftakt: „Ich bin nicht so belastbar“, sagt
sie offen.
Aktiv und dynamisch: Das war Vanessa Brandt, bevor das Aneurysma ihr Leben komplett umdrehte. Bilder sprechen von unbeschwerten Zeiten. Sie zeigen Vanessa als junge Frau mit strahlendem Lächeln. Vanessa ist die Jüngste von vier Geschwistern. In ihrem Heimatort Bingen-Dromersheim engagiert sie sich in mehreren Vereinen. An der Katholischen Hochschule (KH) Mainz studiert sie bis 2014 und absolviert den Master Soziale Arbeit-Beratung und Case Management. Danach arbeitet die Sozialpädagogin beim Caritasverband Mainz im Rheinhessischen. Bis am 18. September 2015 ein Aneurysma in ihrem Kopf platzt.
Über ein Jahr lang lebt sie ohne Schädeldach
Aneurysma, so heißt das Fachwort für eine Aussackung eines Blutgefäßes (siehe „Zur Sache“). Nach einem Krampfanfall kommt sie ins Krankenhaus. Einen Monat lang liegt sie in der Mainzer Uniklinik. Währenddessen erleidet sie zwei Schlaganfälle, eine typische Folge eines Aneurysmas. Über ein Jahr lang lebt sie ohne Schädeldach und muss einen Helm tragen. Sechs Monate lang wird sie in der BDHKlinik Vallendar in der Abteilung der Neurologischen Frührehabilitation versorgt. Dann kommt sie nach Hause. Eltern und Geschwister pflegen Vanessa, Verwandte und Freunde helfen mit. Die Mutter gibt ihren Beruf als Hauswirtschafterin auf. Im November 2016 steigt die Caritas- Sozialstation St. Rochus mit in die Pflege ein.
Birgit Blumers bekommt die Notsituation der Brandts hautnah mit. Sie arbeitet bei der Gemeindecaritas St. Peter und Paul in Dromersheim. Sie und ihr Mann Werner sind mit den Brandts gut befreundet. „Wir waren geschockt, als wir hörten, was mit Vanessa passiert ist.“ Für sie und zwei weitere befreundete Familien der Brandts ist klar: Sie helfen, wo sie können. Fahren, kochen, da sein.
Birgit Blumers erzählt weiter: „Irgendwann kam mein Mann vom Spaziergang mit dem Hund zurück und sagte: Du, da müssen wir was machen.“ Sie tüfteln die Idee aus, eine Spendenaktion zu starten. Eine kulinarische Weinprobe soll es als Benefizveranstaltung geben. „Wir wollten Freunde und Vereine einbinden und auch die Caritas einschalten, weil Vanessa ja dort gearbeitet hat. Alle haben mitgemacht.“ Um Geld im Vorlauf zu sammeln, damit die Weinprobe überhaupt starten kann, posten sie einen Spendenaufruf auf Facebook. Und werden überrascht. Die Facebook-Aktion wird ein Selbstläufer. „Ab diesem Tag waren wir zwei, drei Wochen lang nur noch am Telefon“, sagt Birgit Blumers. Auf die Frage, wie sie das durchgehalten haben, antwortet sie: „Zu helfen, das ist für uns selbstverständlich. Diese Frage hat sich uns nie gestellt.“ Schlimm war für Birgit Blumers, Vanessa in diesem Zustand zu sehen. Durch Gespräche untereinander, im Kreis der Helfenden „haben wir gelernt, anders mit der Situation umzugehen“. Auch medizinisch haben sie sich kundig gemacht. „So haben wir uns gegenseitig unterstützt.“ Besondere Momente der Hoffnung schildert Birgit Blumers. „Als die Bürkle-Stiftung durch Facebook auf Vanessas Schicksal aufmerksam wurde, ab dem Zeitpunkt kam etwas ins Rollen.“ Die Zuwendung der Stiftung machte es zusammen mit weiteren Spenden finanziell möglich, dass Vanessa sich einer besonderen Therapie in der Slowakei unterziehen konnte.
Das Adeli Medical Center in Piestany kümmert sich als Klinik für intensive Neurorehabilitation um Patienten wie Vanessa. Birgit Blumers erzählt von einem weiteren Hoffnungsmoment, „als ich Vanessa mit ihrem Papa hab’ tanzen sehen. Sie haben ein Video aus der Reha in Piestany geschickt mit ihren ersten Gehversuchen.“ Birgit Blumers stockt beim Erzählen. „Sie war so happy. Sie hat so gestrahlt.“
„Erwarten Sie nichts“, sagten die Ärzte
Bei der Pressekonferenz in Dromersheim werden Bilder von der Reha im Adeli Medical Center in der Slowakei herumgegeben. „In Piestany haben sie Vanessa ein Stück weit geweckt“, sagt Carmen Brandt. Auf den Bildern sind viele Menschen mit freundlichen Gesichtern zu sehen, die sich um Vanessa gekümmert haben. Die Therapie schlägt an.
Dass Vanessa wieder an einem Gespräch teilnehmen, sich bewegen und lachen kann, das haben die Ärzte hierzulande nicht für möglich gehalten. „Die Prognosen waren schlecht. ,Erwarten Sienichts‘, sagten sie.“ Wie hat die Familie trotzdem ihre Hoffnung behalten? „Wir tragen als Mutter und Vater Verantwortung, in guten wie in schlechten Tagen“, schildert Carmen Brandt die Einstellung von ihr und ihrem Mann. „Wir machen einfach weiter und nehmen das an, was kommt.“
Zur Sache
Was ist ein Aneurysma?
Unter einem Aneurysma versteht man eine Aussackung einer Schlagader (Arterie). Schlagadern befördern das Blut vom Herzen in die Organe und können sich unter dem ständigen Einfluss des Blutdrucks weiten. Die häufigste Form ist die Ausweitung der Hauptschlagader (Aorta). Die Bauchschlagader ist dabei am häufigsten betroffen. Voraussetzung für eine geweitete Schlagader ist eine geschwächte Arterienwand. Diese entsteht oft durch Ablagerungen (Arteriosklerose), wovon eher ältere Menschen betroffen sind. Angeborene Aneurysmen, zum Beispiel im Gehirn, kommen seltener vor und können auch bei jungen Menschen auftreten. Platzt ein Aneurysma im Schädelinneren, droht durch eine Hirnblutun Lebensgefahr. Heftige Kopfschmerzen, die plötzlich auftreten, sowie Nackensteifigkeit, Lähmungen und Benommenheit können auf eine Hirnblutung hinweisen.