Jüdisches Leben in Deutschland

Von Seesen in die Welt

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Ein Mann mit Einfluss und Visionen: Israel Jacobson wollte, dass sich Juden und Christen auf Augenhöhe begegnen. In Seesen am Harzrand baute er eine Schule und einen Tempel. Bahnbrechende Ideen der damaligen Zeit, die sich bis heute auswirken. Das Reformjudentum hatte in der Provinz seinen Anfang.

Hier begann der Erfolg des Reformjudentums: Blick auf Jacobsonschule und Tempel in Seesen.
Hier begann der Erfolg des Reformjudentums:
Blick auf Jacobsonschule und Tempel in Seesen.

Es war ein großes und im weiten Umkreis beachtetes Ereignis für die kleine Stadt am Harzrand: Am 17. Juli 1810 wurde die Seesener Synagoge eingeweiht und alle nahmen Anteil. Der Berichterstatter notierte: „Wo hat es wohl ehedem einen ähnlichen solchen Tag gegeben, an welchem Christen und Israeliten einen gemeinschaftlichen Gottesdienst, in Gegenwart von mehr als vierzig Geistlichen beider Religionen, miteinander feierten? Nur der Toleranz unserer Tage ist es aufbehalten gewesen, dies alles zu bewirken.“  Heute gilt Seesen als Ausgangsort des Reformjudentums, auch wenn es zeitgleich ähnliche Bestrebungen anderswo in Deutschland gab. „Aber hier können wir diese Entwicklung konkret festmachen – am Beispiel einer Synagoge, einer Schule und vor allem an einer Person“, sagt Dirk Stroschein, Leiter des Seesener Museums.

Die Person ist Israel Jacobson, der – so beschreibt ihn Stro­schein – „richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort“. Heute würde man ihn wohl einen Macher nennen. Der gebürtige Halberstädter hatte Einfluss durch sein Vermögen als Bankier und Kaufmann, pflegte ein verzweigtes Netzwerk, war Landesrabbiner im Herzogtum Braunschweig. Und er hatte eine Vision: Geprägt von den aufklärerischen Schriften Mendelssohns und Lessings wollte er das Judentum reformieren. Das war im Königreich Westfalen, zu dem Seesen damals gehörte, gerade gleichgestellt worden. Für Jacobson nicht nur Chance, sondern auch Verpflichtung, sich den Anforderungen der bürgerlichen Vernunft zu stellen. 

Israel Jacobson
Israel Jacobson

Israel Jacobson hat eine Vision: die Begegnung der Religionen in Augenhöhe. Dies gelingt, so seine Überzeugung, am besten durch Bildung und so plant er den Bau einer Schule, die sich grundlegend von den bisherigen jüdischen Schulen unterscheiden soll. Denn dort steht vor allem die Beschäftigung mit der Thora im Mittelpunkt. Jacobson will mehr, die Kinder sollen aufs Leben vorbereitet werden, die gleichen beruflichen Chancen haben wie ihre christlichen Altersgenossen, in Handwerk und Landwirtschaft unterrichtet werden. 

Der Widerstand ist kurz, aber heftig: die einen befürchten Konkurrenz, die anderen Verwässerung von Glauben und Tradition. Doch Jacobson kann durch gute Argumente und wohlwollende Unterstützung Christen und Juden gleichermaßen ins Boot holen und setzt mit seiner „Religions- und Industrieschule“ eine geradezu bahnbrechende Idee um: Kinder beider Religionen werden gemeinsam unterrichtet, bald kommen sie nicht nur aus Seesen und Umgebung, die im Internat lebenden Schüler kommen sogar aus Venezuela, aus Russland und den USA. Der kleine Ort am westlichen Harzrand entwickelt sich zu einem Experimentierfeld und gleichermaßen zu einem Ort der Begegnung und Verständigung.

Der Schule, eingeweiht 1801, folgt neun Jahre später unter großer Anteilnahme der Bevölkerung die Einweihung der Synagoge. Auch hier ist alles anders als bisher, auch hier setzt sich Israel Jacobson mit seinen Reformgedanken durch. Neu und fast schon provozierend ist die Bezeichnung Tempel; denn nach jüdischer Überzeugung gibt es nur den einen wahren Tempel in Jerusalem. In den Jahrhunderten nach der Vertreibung hatten sich Juden immer in der Synagoge versammelt. „Will Israel Jacobson unseren Glauben verwässern?“, fragen sich viele misstrauisch. Ganz im Gegenteil!, versichert der immer wieder. „Mir liegt nichts ferner als unsere Religion aufzugeben“, aber ihm gehe es darum, den jüdischen Glauben zu öffnen für die jeweilige Kultur, in der er gelebt wird. Gut möglich, dass Jacobson das Beispiel vieler Tausender Juden vor Augen hat, die bereits zum Christentum konvertiert sind, um gesellschaftlich aufsteigen zu können. 

Wie auch immer, die Neuerungen in Seesen sind bahnbrechend und sorgen für Aufsehen: Der Tempel ist architektonisch angelehnt an die evangelische Kirche im Ort, die Gottesdienste werden zeitlich gestrafft. Gebetet und gepredigt wird nicht nur in hebräischer, sondern auch in deutscher Sprache. Auf der Empore steht eine Orgel, als Instrument der Christen bisher abgelehnt, und weil sie entsprechend Platz benötigt, dürfen die Frauen, zwar immer noch von den Männern getrennt, nun immerhin näher am heiligen Geschehen teilnehmen. Vieles steht Kopf, aber alles geht gut.

Der Seesener Tempel als Spenden-Kästchen.
Der Seesener Tempel als Spenden-Kästchen.

Bleibt die Frage, warum das Reformjudentum, heute eine der wichtigen Strömungen und vor allem in den USA größte Gemeinschaft, ausgerechnet in einem verschlafenen Ort am Harz seinen entscheidenden Auftrieb bekommen hat? „Eben deshalb, weil Seesen völlig unbedeutend war“, ordnet Museumsleiter Dirk Stroschein ein. Hier konnte Israel Jacobson seine bahnbrechenden Ideen in die Tat umsetzen, ohne im Rampenlicht zu stehen. „Es gab keine etablierte jüdische Gemeinde, dafür aber wichtige christliche Fürsprecher, zum Beispiel als Vertreter des Herzogs von Braunschweig dessen Amtmann vor Ort.“ Israel Jacobson starb 1828 in Berlin, sein Grab auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee ist erhalten. Erhalten ist auch die Erinnerung an einen Mann, der Reichtum und Einfluss für andere eingesetzt hat. 

Von der Schule ist nur das Wohnheim geblieben. Am Eingang erinnert eine „Stolperschwelle“ an die 260 ehemaligen jüdischen Schüler, die Opfer der Schoah wurden. Der Seesener Tempel wurde in der Reichspogromnacht 1938 von SS-Leuten zerstört. Im Museum gibt es eine gut gemachte Abteilung, die über Israel Jacobson und sein Wirken informiert. An einer der Wände hängt der Miniaturbau des Tempels, ein Zedeka-Kästchen für mildtätige Spenden. Es stammt aus den USA und ist Ausdruck dafür, dass vielen amerikanische Juden die kleine Stadt Seesen ein Begriff ist. 

Von Stefan Branahl