Anstoss 02/19

Vorfahrt für Atheisten

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Frömmigkeit ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Als ich noch etwas kleiner war, galten diejenigen Mitchristen als Vorbilder, die jeden Tag und bei jedem Wetter in die Kirche gingen.


Darunter waren zutiefst sympathische Leute, die nicht ansatzweise in Versuchung standen, sich für das Maß aller Dinge zu halten. Der Begriff „gute Seele“ traf auf sie im allerbesten Wortsinne zu. Und dann gab es diejenigen, die Tag für Tag denselben Weg gingen, ihre Frömmigkeit allerdings als Waffe benutzten. Missbilligend grummelten sie über jeden, der ihren oft sehr beschränkten Vorstellungen von Frömmigkeit nicht entsprach. Sie wussten immer besser als andere, was in der Messe geht und was nicht, konnten sich über vermeintlich falsch ausgesuchte Liedzeilen und gestalterisch experimentelle Gottesdienste echauffieren, hatten keine Probleme allzu modernistische Tendenzen abfällig zu betuscheln oder Mitchristen mit wichtiger Miene beim Bischof oder „Werweißwo“ anzuprangern. Je stärker sie in der Kirche eingebunden waren, desto hinterhältiger wurde ihr Agieren. Dummerweise gab es meist irgendwelche Würdenträger, die sich für dieses Gerede interessierten und sich in der Pflicht sahen, irgendwas zu machen. Und nun kommt Papst Franziskus mit einer Beschreibung und einem radikalen Rezept: „Wie oft sehen wir den Skandal dieser Personen, die in die Kirche gehen und dort jeden Tag sind. Und dann führen sie ein Leben, in dem sie andere hassen oder schlecht über andere Leute reden. Besser, man geht nicht in die Kirche: Lebe so, als seist du ein Atheist.“

Vor allem der letzte Ratschlag hat es in sich, denn Atheisten gegenüber ist der Papst durchaus positiv eingestellt. Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes, alle Menschen können Gutes tun. Glaube und katholisch sein kämen erst danach. Wer sich allein wegen seiner frommen Handlungen besser wähnt als andere ist auf dem Holzweg. Der Holzweg ist dort, wo die Balken das Sichtfeld massiv eingrenzen und nicht nur die kleinen Splitter im Auge stecken. Es ist eine Versuchung, sich für besser zu halten als andere Menschen. Besonders für uns frommen Leute.
 
Guido Erbrich, Roncalli-Haus Magdeburg