Anfrage
War Jesus wirklich ganz ohne Sünde?
Jesus war „in allem uns gleich, außer der Sünde“ – dieser an den Hebräerbrief (4,15) angelehnte Satz gehört zum Kernbestand des christlichen Glaubens. Ob man ihn akzeptieren kann oder ob man wie Sie über ihn stolpert, hat viel damit zu tun, wie man den Begriff „Sünde“ versteht.
Ihre Anfrage bezieht sich darauf, dass Jesus einer heidnischen Frau, die um Heilung für ihre Tochter bittet, pampig kommt. Sie indirekt als „Hund“ zu titulieren, ist eine Frechheit. Aber ist jede Frechheit Sünde?
Ja, hat man uns als Kindern beigebracht. Mama nicht zu gehorchen oder Papa zu widersprechen, ist Sünde. Oder in der Fastenzeit Schokolade zu essen oder es im Gottesdienst an Andacht fehlen zu lassen. Wenn all das Sünde wäre, wäre vermutlich auch der kleine Jesus ein Sünder gewesen – und der große vielleicht auch.
Tatsächlich aber überzeugt dieser Sündenbegriff nicht mehr. Vielmehr bezeichnet die Theologie es als Sünde, wenn wir uns bewusst und willentlich von Gott und seiner Liebe trennen, ihn ablehnen. Sie merken: Das ist eine hohe Hürde. Oder, wie mein alter Professor für Moraltheologie zu sagen pflegte: „Schwere Sünde ist schwer zu tun.“
Vielleicht wird es deutlicher, wenn man auf die Stelle im Hebräerbrief schaut, auf den die Lehre von der Sündlosigkeit zurückgeht. Es heißt dort: „Wir haben ja nicht einen Hohepriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen, sondern einen, der in allem wie wir versucht worden ist, aber nicht gesündigt hat.“ Das spielt auf die Versuchung in der Wüste an, auf die Auseinandersetzung mit dem Teufel, der vergeblich versuchte, Jesus auf seine Seite zu ziehen – weg von Gott.
Weg von Gott: Damit sind wir sehr nah dran an dem, was die Theologie heute unter Sünde versteht, und ja, in diesem Sinne war Jesus ohne Sünde. Daran glaube ich.
Etwas anderes ist die alltägliche Schwäche, mit der Jesus mitfühlen kann und der er als wahrer Mensch vielleicht gelegentlich erlegen ist. Zum Beispiel in der Begegnung mit der kanaanäischen Frau.