Wallfahrtsorte: Viele Besucher haben keine christlichen Wurzeln mehr

Willkommen Ihr Touristen!

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Kirche Kevelaer
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Foto: imago/imagebroker

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Der Marienwallfahrtsort Kevelaer – zwischen alter und neuer Realität.

Die Wallfahrtsorte in Deutschland stehen vor Herausforderungen: Klassische Pilgergruppen kommen weniger – dafür mehr Menschen, denen christliche Rituale fremd sind. Seelsorger Bastian Rütten erzählt, wie sich der Marienwallfahrtsort Kevelaer darauf einstellt.

Bastian Rütten vergleicht das seelsorgerische Angebot im Wallfahrtsort Kevelaer gerne mit der Küche des Gästehauses: Der traditionelle Pilger, der in die Stadt am Niederrhein kommt, mag gerne Roulade mit Rotkohl und selbstgemachten Klößen. „Das ist ein traumhaftes Essen“, sagt Rütten, der als Seelsorger in Kevelaer arbeitet. „Aber unsere Küche kann mehr.“ Wenn eine jüngere Gruppe Radpilger ankomme, freuten die sich vielleicht mehr über Antipasti und moderne mediterrane Speisen. „Was beim Essen im Gästehaus anfängt, erleben wir hier in allen Bereichen“, sagt Rütten. „Wir liefern weiter die Roulade und jeder, der sie mag, ist bei uns herzlich willkommen. Aber wir müssen die Fühler Richtung Zukunft ausstrecken.“

Die Wallfahrts- und Pilgerorte in Deutschland stehen vor großen Herausforderungen. Klassische Gruppen aus Frauengemeinschaften und Pfarreien, die sich traditionell einmal im Jahr auf den Weg machen, werden weniger. Stattdessen kommen mehr Menschen, die mit der Geschichte dieser Orte nicht vertraut und denen christliche Rituale eher fremd sind. 

„Eine tiefe Sehnsucht nach Spiritualität“

„Ich beobachte bei vielen Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Spiritualität, und die Suchbewegung nach geistlichen Orten ist nach wie vor ungebrochen“, sagt Martin Lörsch. Der emeritierte Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät Trier beschäftigt sich seit Jahren mit Wallfahren, Pilgern und dem spirituellen Tourismus. Im Austausch mit Experten der Wallfahrtsseelsorge und zum Pilgern auf den Jakobswegen, mit Reiseanbietern, Soziologen und Praktischen Theologen hat er untersucht, vor welchen Veränderungen die Wallfahrtsorte stehen – und wie sie am besten bewältigt werden können. Die Ergebnisse hat eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Münsteraner Weihbischofs Rolf Lohmann in einer Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz zusammengestellt.

„Die Zeit der Sonderbusse ist vorbei“

Seit dem Ende der Corona-Pandemie steigen die Pilgerzahlen wieder. „Ich erlebe in den Orten keinen Rückgang, aber eine Veränderung“, sagt Lörsch. Das bestätigt Bastian Rütten in Kevelaer. „Die Zeit der großen Sonderzüge und Sonderbusse, die ist vorbei“, sagt er. Es kämen nun Menschen, die spirituell oder kulturell interessiert seien. Sie besuchten Meditationen oder Orgelkonzerte. Und es kämen Touristen, die einen Stopp in Kevelaer einlegen und eine Führung zur Geschichte des Ortes buchen. Oft kann Rütten nicht mehr unterscheiden zwischen Pilger, Sinnsucher und Tourist: „Derjenige, der bei uns in der Kapelle eine Kerze anzündet, kann ein religiöser Tourist sein, ein Wallfahrer – oder einfach jemand, der in der Stadt shoppen war.“ Man müsse bereit sein, auf all diese Menschen zuzugehen und sie willkommen zu heißen.

Kapellenplatz Kevelaer
Der Kapellenplatz in Kevelaer: Foto: Malte Fiedler

Gastfreundschaft – das ist für Lörsch ein entscheidendes Stichwort. „Das war schon immer wichtig“, sagt er. „Aber jetzt müssen wir uns offen zeigen für die Buntheit der Menschen, die kommen: für ihren Lebensstil, für ihre Kleidung, für ihre Unbedarftheit und Fremdheit gegenüber Ritualen. Wir dürfen die Menschen nicht werten und abwehren nach dem Motto: Die Touristen stören, die frommen Beter sind willkommen“, sagt Lörsch. 

Für Rütten heißt das, unterschiedliche Seelsorge-Angebote zu machen: Gottesdienste, Angebote zu Gespräch und Beichte, die Pilgerandacht am Nachmittag, den Kerzensegen an den Wochenenden und das Pilgerfoyer als Kontaktstelle für alle Interessierten. „Wir müssen pro-aktiv sein. Wir müssen den Mut haben, nicht nur in der Ecke zu stehen, sondern auf die Menschen zuzugehen“, sagt Rütten. „In das Pilgerfoyer kommen im Sommer vielleicht eine Handvoll Leute. Aber wenn man sich draußen vor die Tür setzt, kommt man viel leichter mit den Menschen ins Gespräch.“ 

Das sei auch für die Seelsorger und die Ehrenamtlichen eine Umstellung. „Die Anpassung ist insgesamt nötig und nicht nur punktuell. Wir müssen uns fragen: Wie müssen unsere Gottesdienste sein? Wie unsere Predigten? Wer sitzt vor mir? Das braucht eine hohe Flexibilität von uns“, sagt Rütten. 

Lörsch sieht, dass sich immer mehr Wallfahrtsorte auf die veränderte Pilgerstruktur einstellen: „Es gibt Orte wie Kevelaer, Kohlhagen oder Telgte, die ihre Konzepte umstellen oder erweitern. Andere ringen noch mit sich.“ Denn natürlich sei es ein Spagat, sich auf neue Pilger einzustellen, die alten Pilger aber nicht zu vergraulen. „Wichtig ist, die eigene Geschichte nicht zu vergessen. Jeder Ort hat seinen Gründungsmythos“, sagt Lörsch. „Wir müssen ihn auf eine gute Weise übersetzen, sodass die einen spüren, unser kostbarer Ort wird nicht plattgemacht und um jeden Preis modernisiert. Und zugleich müssen die neuen Pilger merken, dass da Menschen sind, die ein Gespür für ihre Fragen und Sorgen haben.“

Kerstin Ostendorf