Corona macht die Menschen stumm
Warum das Singen fehlt
Singen ist ein Sprungbrett hin zur religiösen Erfahrung, meint Professorin Melanie Wald-Fuhrmann. Wie funktioniert dieser Sprung und was fehlt, wenn Menschen im Gottesdienst nicht singen können? Von Ruth Lehnen.
Stumm bleiben müssen. Das ist zur Zeit ein Problem in den Gottesdiensten. Denn beim Singen wird der Mund weit geöffnet, der Atem geht tief, und das ist in geschlossenen Räumen derzeit gefährlich – das Corona-Virus könnte sich stark verbreiten, wenn jemand infiziert ist. Singen (weitgehend) verboten, heißt es deshalb, und weil gerade das plötzlich Verbotene wertvoll zu sein scheint, fragt sich mancher: Was fehlt mir genau, wenn mir das Singen im Gottesdienst fehlt?
1603 Menschen wurden befragt
Melanie Wald-Fuhrmann ist die Frau, die darauf eine Antwort hat. Gerade ist eine Studie im Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik fertig geworden, die sich mit dieser Frage befasst hat – vor Corona. Wald-Fuhrmann, Direktorin am Frankfurter Institut, hat dabei zusammen mit anderen (siehe unten „Zur Sache“) untersucht, welche Effekte das Singen in der Messe wirklich hat. Empirisch, das heißt zahlenbasiert: 1603 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden online befragt. In der Mehrzahl machten hoch engagierte, liturgisch aktive Katholiken bei der Studie mit, 30 Prozent davon aus dem Erzbistum Köln, 22 Prozent aus dem Bistum Mainz und 8 Prozent aus dem Bistum Trier.
Das Team wollte wissen, ob das zutrifft: Wer singt, betet doppelt. Professorin Wald-Fuhrmann erläutert, was sich die Kirche vom Gesang erwartet, ohne dass bisher näher erforscht worden wäre, ob das Erwartete tatsächlich zutrifft: Zum einen ist Gesang in der Kirche „Gotteslob“: akustisches Dank- und Anbetungsopfer. Dann ist es Ausdruck der Freude über Gott und seine Taten und ein Mittel, sich ihm nah zu fühlen. Und zwar nicht allein als einzelner Mensch, sondern gemeinsam. Das gemeinsame Singen im Gottesdienst schafft Gemeinschaftsgefühl.
„Ich singe Dir mit Herz und Mund“
Dabei haben die Meister des Gesangs immer gewusst, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Gesang „nur“ mit der Stimme und dem Gesang des Herzens. Wald-Fuhrmanns liebster Liederdichter, Paul Gerhardt, formulierte es so: „Ich singe Dir mit Herz und Mund“ – nur das Zusammenspiel von Seelenempfindung und akustischem Ausdruck ist demnach das wahre Singen. Alle vermuteten Effekte wurden nun zum ersten Mal wissenschaftlich erfasst und konnten tatsächlich bestätigt werden. Interessant dabei ist, dass die Faktoren „Alter, Geschlecht, Bildung“ im Hinblick auf die erwarteten Effekte keine Rolle spielen. Wichtiger als diese Faktoren ist eindeutig, welche individuellen Einstellungen zur Musik und zum Gottesdienst vorhanden sind. Wer viel Erfahrung mit dem Singen hat, wer dem Singen und der Musik gegenüber positiv eingestellt ist, der wird die von der Kirche erwünschten Effekte erleben. Die Musik wirkt aber nicht vergleichbar einer Pille: Einnehmen und der Effekt ist da. Zugespitzt sagt Wald-Fuhrmann: „Menschen singen zu lassen, die Singen hassen, bringt gar nichts.“ Nichts im Hinblick auf Gotteslob, nichts im Hinblick auf Gemeinschaft.
Melanie Wald-Fuhrmann, die selbst in der Frankfurter Domgemeinde aktiv ist, fragt sich auch, was die Kirche aus der Studie lernen könnte. Sie zieht zwei Schlüsse: Die Profis der Kirchenmusik wie die Organisten, Chorleiterinnen, Kantoren, könnten mit den Gottesdienstteilnehmern noch stärker ins Gespräch kommen, um zu erklären, was das Singen soll. Sie glaubt, dass es hilft, wenn die Menschen die Texte als Gebet verstehen lernen. Wenn eine Gemeinde darüber ins Gespräch käme, könnten auch notorische Nichtsänger besser nachvollziehen, warum es für andere so wichtig ist, gemeinsam einzustimmen in das Lob Gottes.
Zum Zweiten wirbt die Professorin und Katholikin für die so genannte Repertoirebildung: „Es ist viel leichter, das Singen als Sprungbrett religiöser Erfahrung zu nutzen, wenn man die Gesänge auswendig kann.“ Positive Einstellung, Wissen über den Zweck, Erfahrung und Übung, Kenntnis der Lieder – so kann gesungenes Gotteslob gelingen. Und so können auch die alten Lieder von Menschen anderer Zeiten für heute erschlossen werden.
Aber nicht in Corona-Zeiten! Wald-Fuhrmann fehlt das gemeinsame Singen im Gottesdienst selbst sehr. Zur Zeit sitzen die Gläubigen vereinzelt in den Bänken, sie bekommen etwas dargeboten, und eins der „wirksamsten Hilfsmittel zur Herstellung von Festlichkeit“, der Gesang, kann nur von der Kantorin oder dem Pfarrer eingebracht werden.
Ideal tätige Teilnahme – Streaming als Notbehelf
Sowohl die ausschließlich von Profis dargebotene Musik als auch das Streaming macht die Menschen zu Zuschauern und Zuhörern, die nur mittels Erinnerung und Erfahrung zu Mitfeiernden werden. Gerade beim Streamen fehlen physische Anwesenheit und „Kopräsenz“ – das heißt, das Miteinander in Zeit und Raum. Beides ist aber wichtig für die „tätige Teilnahme“ an der Messfeier, die die Kirche anstrebt.
So gesehen handelt es sich bei diesen (Not)lösungen um „eine unfreiwillige Rücknahme“ längst erreichter Standards eines modernen Gemeindegottesdienstes, meint Melanie Wald-Fuhrmann. Und der Gottesdienst unter Corona-Bedingungen ist für sie durch das Fehlen des Gesangs sehr eingeschränkt: „ein ewiger Karfreitag“, der zum Leid der Pandemie am Ende sogar passt.
Zur Sache: Die Studie
Die Studie wird in der Fachzeitschrift „Frontiers in Psychology“ in englischer Sprache erscheinen. Der Titel lautet auf Deutsch: „,Wer singt, betet doppelt?‘ Gesang in der römisch-katholischen Messe führt zu geistlichen und gemeinschaftlichen Effekten, die durch religiöse und musikalische Eigenschaften vorhergesagt werden können.“ Melanie Wald-Fuhrmann, Sven Boenneke, Mitarbeiter der Abteilung Entwicklung im Erzbistum Paderborn, Thijs Vroegh und Klaus Peter Dannecker vom Deutschen Liturgischen Institut Trier untersuchen darin, ob und wie Singen in der Messe zu spirituellen und sozialen Erfahrungen führt. Die Studie basiert auf Online-Fragebögen. Faktoren wie Geschlecht, Alter und Bildung haben kaum Effekte auf dieses Erleben, wichtig dafür sind religiöse und musikalische Einstellungen. (nen)
Zur Person: Forschung zum Thema Liturgie
Melanie Wald-Fuhrmann ist Direktorin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Die Musikwissenschaftlerin stammt aus Schwerin und trat im Erwachsenenalter zur katholischen Kirche über. Sie engagiert sich in der Frankfurter Domgemeinde.
Im Projekt „Wirkungsästhetik der Liturgie“ (WæL) gilt ihr Forschungsinteresse dem Feiern und Beten in der katholischen Liturgie. Dabei arbeitete sie zusammen mit Professor Klaus Peter Dannecker vom Lehrstuhl für Liturgiewissenschaften der Theoloischen Fakultät Trier, der seit August emeritiert ist. Unter anderem wurde im Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik erstmals die Wirkung einer katholischen Messe im Labor untersucht, die Kirchenzeitung berichtete. (nen)