Kulturgespräche in St. Clemens in Hannover
Was macht die Seele einer Stadt aus?
Warum braucht eine Stadt noch Kirchen? Baulicher Zierrat? Oder doch viel mehr? Darüber wurde bei den Kulturgesprächen St. Clemens in Hannover diskutiert.
Kirche und Stadtentwicklung – ein ungewöhnliches Thema an einem ungewöhnlichen Ort: dem Atelier Goethe Exil. Einst Fabrikhalle, jetzt Produktions- und Ausstellungsort eines Kollektivs von Fotografinnen und Fotografen. Bei seiner Begrüßung verweist Hannovers Propst Christian Wirz auf den Garten Eden: „Das ist der Ursprung des Menschen mit Gott.“ Der Garten sei ein Bild für die Beziehung des Menschen zur Natur. Die Stadt spiegele das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen. Was heißt das also für die Entwicklung einer Stadt, für deren Seele? Eine Frage an das Podium.
Das Podium, moderiert von der Kulturjournalistin Kathrin Heise, ist hochkarätig besetzt: mit Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay und Bischof Heiner Wilmer die Männer, die an der Spitze der Landeshauptstadt und des Bistums Hildesheim stehen. Mit Dilek Ruf und Patricia Löwe zwei Frauen vom Fach. Dilek Ruf ist Architektin, Gründerin und Geschäftsführerin einer Bauprojekt-Firma und seit 2018 Vorstandsvorsitzende des Bundes Deutscher Architektinnen & Architekten (BDA) Hannover. Patricia Löwe ist in Berlin zu Hause und wissenschaftliche Referentin der Guardini Stiftung, die sich genau mit diesem Verhältnis von Religion und Gesellschaft befasst – und den Veränderungen.
Ein neuer Stadtteil ohne Kirche?
An einer Stelle in der Diskussion werden diese Veränderungen besonders beispielhaft: In Hannover entsteht der neue Stadtteil Kronsrode, in dem 16 000 Menschen Platz haben. Eine kleine Stadt. Ein Gotteshaus oder zumindest ein Kirchplatz ist in der Planung nicht ausdrücklich vorgesehen.
„Das hätte es noch vor 100 Jahren nicht gegeben“, betont Dilek Ruf. Im Gegenteil: Kirchen waren Ausgangspunkt von Stadtgründungen. Doch auch wenn die Gebäude in der Planung nicht vorgesehen sein sollten: „Wir können die Stadt nur denken, wenn wir die Grundbedürfnisse der Menschen berücksichtigen.“ Dazu zählt die selbst religiös ungebundene Dilek Ruf ausdrücklich Spiritualität und Glauben. „Denn nur so bilden wir die Frage ab, wie wir zusammenleben wollen“, unterstreicht die Architektin: „Alles andere wäre rein technokratisch.“ Eine Stadt sei immer Ausdruck von Demokratie, vom Widerspruch der Meinungen. Es brauche Orte zum Austausch, auch und gerade spirituell geprägte.
Bischof Wilmer bekennt, dass sich das Bistum Hildesheim von Gebäuden trennen müsse. Gut 1400 unterschiedlichste Immobilien unterhalte die Diözese zwischen Nordsee und Harz, Sakralbauten ebenso wie Pfarrhäuser und Gemeindezentren. Doch gerade, weil ein Gemeinwesen sakrale, spirituelle Räume benötigt, werde nicht einfach von oben entschieden: „Wir führen gerade einen Immobilienprozess durch, der auf insgesamt zehn Jahre angelegt ist.“
Was brauchen Menschen in der Nachbarschaft?
Kern dieses Prozesses seien zwei Fragen, die in den Pfarrgemeinden und Einrichtungen des Bistums beantwortet werden sollen. Zum einen: „Was brauchen die Menschen in der Nachbarschaft?“ Zum anderen: „Was können wir leisten und mit wem?“ Laut Wilmer geht es beim Immobilienprozess auch darum, Kooperationspartner zu finden und Netzwerke zu knüpfen. „Wer allein vorprescht, ist schnell am Ende“, meint Wilmer.
Zusammenarbeit, Netzwerke: Gedanken, die Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay aufgreift. Nicht nur, weil es weiter Räume für Begegnungen brauche. Sondern auch als Perspektive für eine Stadt, die religiös vielgestaltiger wird: „Da sind solche Netzwerke eine echte Chance.“ Wie fruchtbar solche Möglichkeiten sind, zeigt für Onay das immer noch bundesweit einmalige Haus der Religionen in Hannover.
Einmalig deshalb, weil es von acht Religions- und einer Weltanschauungsgemeinschaft getragen wird, Begegnung und Bildung verbindet, aber auch Stimme in der Stadtgesellschaft ist. Aus einer Initiative mit viel Eigeninitiative gewachsen, ist es für Onay eine Einrichtung, „auf die Hannover extrem stolz sein kann“. Wo immer sich solche Chancen bieten, auch durch Umwidmung bisher rein kirchlicher Gebäude, sei die Stadt zur Zusammenarbeit bereit „Das wollen wir politisch begleiten, da sind wir sehr gespannt auf den Prozess.“
Freiräume für Entwicklungen schaffen
Angesichts der gesellschaftlich-religiösen Veränderungen habe die Politik tatsächlich eine wichtige Aufgabe. „Die Politik kann Freiräume ermöglichen für den interreligiösen Dialog, für damit verbundene dynamische Prozesse“, stellt Patricia Löwe heraus: „Das hängt aber sehr vom toleranten Klima einer Stadt ab.“ In ihrer Heimatstadt Berlin sei das offenkundig schwieriger als in Hannover. Für beide Städte aber gelte, dass ein intensiverer Blick auf Kirche lohne.
Kirchen und Religionsgemeinschaften eröffnen Räume für soziale Aufgaben, „die sonst unter den Tisch fallen, jenseits der Spiritualität“. Sie seien wichtige Wegmarken in der Silhouette des Stadtbildes. Zusammen mit Bildungsangeboten in Kindertagesstätten und Schulen schaffen Kirchen gleichzeitig Begegnungsräume für Menschen, die nicht der eigenen Religion angehören. Die Erfahrung aus den Projekten, die Patricia Löwe wissenschaftlich begleitet hat: „Dialog funktioniert meistens besser als vorher gedacht.“
Für Dilek Ruf ist noch ein weiterer Aspekt bedeutsam: „Ein Immobilienprozess fördert, dass das Potenzial von Gebäuden erkannt wird.“ Wird ein Gebäude erhalten, muss es für eine veränderte Nutzung ergänzt oder neu gebaut werden? „Grund und Boden sind eine knappe Ressource in einer Stadt, da haben auch Kirchen eine Verantwortung dafür“, betont Ruf. Die Architektin hat mit ihrem Büro wiederholt Projekte entwickelt, bei denen städtische Flächen umgestaltet werden – statt einfach auf der grünen Wiese neu zu bauen.
Potenzial ist ein Stichwort, das Belit Onay aufgreift. Ihm geht es beispielsweise um die großen Plätze in der Stadt, nicht zuletzt direkt vor Kirchen: „Das sind oftmals Flächen zum Durchlaufen, mit wenig Aufenthaltsqualität.“ Gerade in der Innenstadt haben zeitlich befristete Experimentiervorhaben gezeigt, dass es anders gehe.
Zurück nach Kronsrode: ein neuer Stadtteil ohne kirchliches Gebäude. Aber zudem ohne kirchliche Präsenz? „Wir werden nicht in erster Linie in Steine investieren“, macht Bischof Wilmer klar. Aber personell möchte das Bistum die neu Zugezogenen begleiten, versichert Wilmer. Das schafft zumindest ein Angebot für Spiritualität. Solche sakralen Angebote gehören zur Seele einer Stadt dazu. Wie wichtig diese Angebote, aber auch Orte sind, haben die Corona-Pandemie, aber auch die Ängste durch den russischen Überfall auf die Ukraine gezeigt.
Die komplette Diskussion lässt sich auf dem YouTube-Kanal der Katholischen Kirche in der Region Hannover nachschauen.
Rüdiger Wala