Das "Ethik-Eck": Die Sache mit dem Testament
Was zählt: Mamas Wunsch oder meiner?“
Die Frage lautet diesmal: „Nach dem Tod meiner Mutter geht es nun darum, in ihrem Sinne noch etwas vom Erbe zu spenden. Eine der Organisationen, die meine Geschwister ausgewählt haben, hatte mit sexuellem Missbrauch zu tun. Ich will denen kein Geld geben. Was zählt: Mamas Wunsch oder meiner?“
Testier-Freiheit
Ich habe ein neues Wort gelernt: Testierfreiheit. Es kommt sprachlich von „Testament“, was so viel heißt, wie „etwas bekunden“ oder „etwas versichern“. Testtierfreiheit zu haben bedeutet, dass eine Person das Recht hat, frei darüber zu entscheiden, wie das jeweilige Vermögen im Erbfall verteilt werden soll.
Soweit ich recherchiert habe, sind dabei zahlreiche Auflagen an Erben möglich. Zum Beispiel kann man bestimmen, dass der Erbe volljährig sein muss, um das Erbe anzutreten, dass die geerbte Firma für zehn Jahre nicht an Dritte verkauft werden darf oder eben, dass 10 000 Euro an das Tierheim im Nachbardorf zu spenden sind. Wenn man skeptisch ist, ob der Erbe das wirklich umsetzen wird, kann man das wohl sogar gerichtlich prüfen lassen.
Aber auch solche Auflagen haben Grenzen – denn die Erben haben auch jeweils selbst eine eigene Entscheidungs- und Testierfreiheit.
Auf den Wunsch des Erblassers, den Postboten anzuzeigen, wenn er unglücklich über das geliebte Blumenbeet der verstorbenen Person stapft, kann der Erbe zum Beispiel nicht dazu verpflichtet werden.
In unserem Fall wird nicht erkenntlich, ob meine Mutter eine solche rechtlich bindende Auflage gemacht hat. Das kann ich im Testament nachschauen und muss entsprechend
reagieren. Es ist darüber hinaus auch nicht ganz klar, was „in ihrem Sinn“ bedeutet. Gab es Gespräche, in denen deutlich wurde, welche Projekte unterstützt werden sollen? Wenn das der Fall ist, bin ich ethisch sicher stärker gebunden, diesen Wunsch zu erfüllen.
Es handelt sich hier aber vermutlich nicht um eine klassische Auflage im Testament meiner Mutter, sondern um den geschwisterlichen Wunsch, im Sinn der Mutter etwas Gutes zu tun. Offensichtlich gehen die Vorstellungen davon, was dieses „Gute“ sein soll, auseinander.
Jetzt stehen verschiedene Entscheidungsfreiheiten gegeneinander: Der (vermutete) Wunsch meiner Mutter, der Wunsch meiner Geschwister und meine eigene Meinung zu der ausgesuchten Organisation, die ich deutlich ablehne.
Mein Fazit: Wenn meine Mutter keine Auflage gemacht hat, hat sie mir die Freiheit gegeben, selbst zu entscheiden. Ihre Testierfreiheit respektiere ich.
Und: Ich kann die Organisation, die meine Geschwister – und vielleicht auch meine Mutter – im Sinn haben, nicht unterstützen.
Bernadette Wahl
hat Theologie und Religionspädagogik studiert, ist systemische Beraterin und arbeitet für das Bistum Fulda in der Citypastoral.
Das Gefüge neu ordnen
Das sind wirklich schwierige Momente, wenn die Geschwister nach dem Tod der Mutter zusammenkommen, um noch ausstehende Dinge zu klären. Wirklich heikel.
Da treffen verschiedene Perspektiven aufeinander, jeder hat seine Sicht auf die Dinge.
Tatsächlich hat jeder unterschiedliche Erinnerungen. Jeder und jede hat mit der Mutter andere Erfahrungen gemacht und sie unterschiedlich im Gedächtnis behalten. Jeder hatte eine individuelle Beziehung.
Was war der Mutter wichtig – wie hätte sie entschieden? Das kann aus der Sicht der ältesten Tochter ganz anders sein als aus der Sicht des jüngeren Sohnes.
Dann kommt noch dazu, dass jeder unterschiedliche Bewertungen im Lauf seines Lebens erworben hat. Welche Organisation ist seriös – für welchen Zweck sollte man spenden? Auch da kann es unterschiedliche Antworten geben, die aus dem Blick des Einzelnen ganz berechtigt und überzeugend sind.
Noch etwas ist wesentlich: alle befinden sich, gleich, wie die Umstände des Todes gewesen sein mögen, in der Trauer um einen wichtigen Menschen. Wenn die Eltern, die Mutter stirbt, geschieht etwas Bedeutsames, ganz egal, wie eng oder fern, wie unbeschwert oder belastet die Beziehung war.
Alles verschiebt sich, vieles verändert sich, manchmal ganz real, zum Beispiel wenn das Elternhaus verkauft wird, immer jedoch seelisch. Und in der Beziehung der Geschwister untereinander, weil die Koordinaten, das ganze Gefüge untereinander sich neu ordnen müssen. Eine seelische Erschütterung, die Zeit braucht.
Deswegen ist es ja auch oft so, dass alte Konflikte wieder hochkommen und sich an relativ unbedeutende Fragen hängen. Dann kann es sein, dass um ein Bild, ein Buch, eine kleine Summe oder eine Einzelheit der Beerdigung gestritten wird, als ginge es um alles.
Und es geht in dem Moment ja innerlich um alles, um die Bedeutung der Erinnerungen, die Beziehungen, den eigenen Wert, darum, wie man sich selbst und die anderen verstehen kann.
Und jeder trauert anders, jedes der Geschwister muss für sich den Verlust bewältigen. Und da können der Bruder, die Schwester plötzlich sehr anders und fremd erscheinen.
All das heißt, dass alle verwundbar sind, unsicher, notwendig dünnhäutig.
Umso wichtiger, dass aus all dem möglichst keine Grundsatzfragen entstehen. Es ist nicht die Zeit für: Nur so oder so ist es richtig.
Natürlich lässt sich reden und argumentieren, aber wichtig ist: Es geht nicht ums Rechthaben, sondern darum, miteinander auszukommen.
Und das auch in Zukunft. Bei den nächsten Fragen.
Ruth Bornhofen-Wentzel
war Leiterin der Ehe- und Sexualberatung im Haus der Volksarbeit in Frankfurt.
Wille der Mutter?
Es gibt einen Punkt in der Frage dieses Monats, der die Entscheidung kompliziert macht. Das ist die Tatsache, dass nicht die Mutter selbst vor ihrem Tod die Organisation bestimmt hat, an der nach ihrem Tod ein Teil ihres Vermögens gespendet werden soll. Selbst wenn diese Organisation, sagen wir die katholische Kirche, etwas mit Missbrauch zu tun hatte, so würde doch für den Fall, dass die Mutter diese Wahl getroffen hat, der Wille der Mutter zählen und nicht der ihrer Kinder, mögen sie noch so starke negative Gefühle mit dieser Spende verbinden.
Der Wille der Mutter ist postmortal nicht irrelevant. Wir respektieren diesen Willen, weil wir dies als Respekt vor der verstorbenen Person begreifen. Solange es nicht um offenkundig illegale Dinge geht, müssen wir auch Entscheidungen tolerieren, die nicht unseren Vorstellungen entsprechen.
Für die erste Fallkonstellation fiele die Antwort also nicht schwer. Was soll aber gelten, wenn sich der eine Teil der Geschwister für eine in den Augen des anderen Teils unwürdige Empfängerin der Spende entschieden hat? Welcher Wunsch zählt dann mehr? Am elegantesten wäre die Lösung, gemeinsam darüber nachzudenken, welche Spende im Sinne der Verstorbenen sein könnte. Dann würde ihr mutmaßlicher Wille den Ausschlag geben und nicht die Präferenzen der Kinder, die womöglich nicht in Einklang zu bringen sind.
Die eigenen Wünsche dürfen hier nicht den Ausschlag geben, das wäre eine Art nachträgliche Fremdbestimmung der eigenen Mutter.
Kommt es zu keiner Einigung, liefert am Ende das Recht den Rahmen für die Lösung. Wenn es so ist, dass jedem Kind ein gewisser Erbteil zusteht – davon gehe ich aus –, muss jedes Kind für sich entscheiden, welche Organisation eine Spende aus dem Erbe der Mutter erhalten soll. Findet man die Entscheidung der eigenen Geschwister empörend, kann man das Gespräch suchen, aber die Verantwortung bleibt bei ihnen. Sollten sie daran festhalten, eine Organisation zu bedenken, die in Missbrauch verwickelt gewesen ist, wäre es eine Überlegung wert, die Spende aus dem eigenen Erbteil einer Organisation zukommen zu lassen, die sich im Interesse Betroffener zum Beispiel für die Aufarbeitung von Missbrauch einsetzt. Jedoch sollte man sich fragen, ob diese Spende als eine Art Kontrapunkt zu den eigenen Geschwistern auf Zustimmung der Mutter gestoßen wäre.
Stephan Goertz
ist Professor für Moraltheologie an der Universität Mainz.