Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen

„Wegducken ist für mich keine Option“

Image
Solidaritätskundgebung für Israel
Nachweis

Foto: imago/Gero Helm

Caption

Eine junge Frau fordert mehr Sicherheit bei einer Solidaritätskundgebung für Israel in Bochum.

Seit den Massakern der Hamas in Israel leben Jüdinnen und Juden in Deutschland in Angst vor antisemitischen Übergriffen. Im Interview spricht Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, über Sorgen, Wut – und Zeichen der Solidarität.

Wie ist momentan die Stimmung in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland?

Es ist eine sehr düstere Stimmung. Gerade heute gab es die Meldung, dass ein 12-jähriges israelisches Mädchen an der Grenze zu Gaza gefunden wurde: tot und verbrannt. Wir wachen mit diesen Nachrichten auf, wir gehen mit diesen Nachrichten zu Bett. Wir sind alle schockiert, fassungslos und traurig. Aber wir spüren auch eine grenzenlose Wut.

Auf wen?

In allererster Linie auf die Terroristen der Hamas. Der 7. Oktober ist der schlimmste Tag für das jüdische Volk seit der Schoah. Noch nie wurden seitdem so viele Juden an einem Tag ermordet. Aber natürlich fragen wir uns, warum die Geheimdienste und Politiker in Israel das nicht verhindern konnten. Warum haben sie die israelischen Bürger nicht schützen können?

Viele Juden in Deutschland haben enge Verbindungen nach Israel.

Fast jeder von uns hat Familie oder Freunde in Israel. Es gibt dort so viele Familien, die um das Leben der Geiseln fürchten, oder die massiv leiden, weil ihre Liebsten gestorben sind. Es ist eine ganz furchtbare Situation – die aber auch uns in Deutschland betrifft. Hier werden Synagogen angegriffen und die Ermordung von Juden bejubelt. Es werden Wohnhäuser von Juden mit dem Davidstern markiert. Es ist wie ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.

Wie groß ist die Angst in den jüdischen Gemeinden?

Die ist sehr groß. Es gab zwei Molotowcocktail-Anschläge auf die Synagoge in der Berliner Brunnenstraße. Kurz darauf versuchte ein Mopedfahrer mit Palästinensertuch die Absperrung der Polizei zu durchbrechen. Die Hamas hat zu Tagen des Zorns aufgerufen, was nichts anderes bedeutet, als Juden zu ermorden. In Berlin trauen sich viele nicht, ihre Kinder in die jüdischen Kitas und Schulen zu bringen. Sie tragen keine jüdischen Symbole wie die Kippa auf der Straße. Ich muss das so klar sagen: Jüdisches Leben ist gerade nicht sicher in Deutschland. Das ist eine bittere Erkenntnis.

Philipp Peyman Engel
Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen. Foto: Marco Limberg

Wie gehen Sie persönlich damit um? Sie sind ja nicht nur Journalist, sondern als Jude auch persönlich betroffen.

Als Journalist trifft es mich hart, solche Fotos zu sehen, wie das der ermordeten 12-Jährigen im Harry-Potter-Kostüm. Aber auch das Leiden und der Tod von Palästinensern im Gaza-Streifen, die von der Hamas in Geiselhaft genommen werden, berühren mich zutiefst. Aber ich habe auch zwei kleine Kinder. Ich war jetzt öfter im Fernsehen und bin medial als Chefredakteur präsenter als zuvor. Natürlich mache ich mir Gedanken über die Sicherheit meiner Familie. Menschen sagen mir: Pass auf dich auf! Aber Wegducken ist für mich keine Option. Ich lasse mich nicht tyrannisieren, auch nicht von einem entfesselten Mob. Es kommt auf jeden Einzelnen von uns an. Wir müssen stark sein und Haltung zeigen. Das tun wir und das tue ich auch. 

Was macht Ihnen momentan besonders Sorge?

Dass es noch schlimmer kommt, als es schon jetzt ist. Es braucht nur einen Fanatiker, nur einen Terroristen, um einen Anschlag ähnlich wie 2019 auf die Synagoge in Halle zu verüben.

Und mit Blick auf Israel?

Dass die Hisbollah und der Libanon noch stärker als bisher in den Krieg eintreten. Es ist ein durchaus realistisches Szenario, dass es sich dort zum Flächenbrand entwickelt. Ich mache mir Sorgen um die israelischen Geiseln in Gaza, aber auch um die palästinensische Zivilbevölkerung. Israel muss sich nach diesen Angriffen wehren. Die Hamas nutzt das aus, indem sie Bilder von Toten aus Gaza provoziert und Israel als Aggressor darstellt. Dabei ist das der zentrale Unterschied: Israel versucht, zivile Opfer zu vermeiden. Die Hamas sucht sie geradezu.

Antisemitische Übergriffe häufen sich seit vielen Jahren in Deutschland. Erleben Sie dennoch momentan eine neue Qualität von Übergriffen?

Ich finde schon. Es werden fast täglich auf deutschen Straßen der Terror der Hamas glorifiziert und antisemitische Slogans gerufen. Ich glaube, dass der Antisemitismus stärker und intensiver geworden ist. Wir alle in der jüdischen Gemeinschaft spüren das Aggressions- und Gewaltpotenzial. Wir spüren, da ist etwas in der Luft.

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist betroffen von den Anschlägen in Israel und steht tief besorgt und doch hilflos vor dem erstarkenden Antisemitismus. Was können wir tun?

Ich kann diese Überforderung total nachvollziehen. Ich freue mich einfach über die ehrlich gemeinte Frage: Wie geht es dir? Wenn jemand die Nachrichten verfolgt, seine Solidarität zum Ausdruck bringen will und dann eine Nachricht oder einen Gruß schreibt. Das ist aus meiner Sicht das Allerbeste.

Beim Blick auf die Politik: Was ist in Bezug auf den Antisemitismus in Deutschland in den vergangenen Jahren versäumt worden? 

Vieles. Wir berichten etwa seit langem über Ausschreitungen bei pro-palästinensischen Demonstrationen. Dass dort Vereine und Organisationen hinter stehen, wie etwa die Blaue Moschee oder der Verein Samidoun. Erst jetzt bewegt sich etwas. Aber viel zu spät.

Was wurde noch versäumt?

Bei der Benennung des muslimischen Antisemitismus in Deutschland ist schon vieles ehrlicher geworden. Das heißt aber nicht, dass er immer offen und klar benannt wird. Noch vor einiger Zeit war es geradezu tabuisiert, dieses Problem anzusprechen. Migranten in Deutschland können nicht nur Opfer von Diskriminierung werden, sondern auch selber diskriminieren. Das muss man sagen können, ohne in eine rechtsextreme Ecke gestellt zu werden.

Welche politischen Veränderungen erhoffen Sie sich?

Ich wünsche mir, dass vom Bundeskanzler, vom Bundespräsidenten, von der höchsten politischen Ebene in Deutschland deutlich gesagt wird: Wir haben ein Problem mit muslimischem Antisemitismus. Dass Flüchtlinge ohne gültigen Aufenthaltsstatus, die das Ermorden von Juden feiern, eine Straftat begehen und nicht in dieses Land gehören. Das zu sagen, ist nicht rechtsextrem. Es ist die einzige Konsequenz, wenn man das „Nie wieder!“ ernst meint.

Kerstin Ostendorf