Anstoß 23/20

Wenn die Erde singt

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Mein Sohn, inzwischen 15 Jahre alt, ist sehr sangesfreudig. Sein Repertoire reicht von „Verdammt, ich lieb dich“ bis hin zu „Segne, du Maria“. Und wenn ihm danach ist, schmettert er lauthals los.


Manchmal sind aufgrund seiner Behinderung in den Liedtexten, wie er sie singt, etwas verquere Wörter.
Neuerdings singt er ständig das Lied: „Lobt froh den Herrn, ihr jugendlichen Chöre“. Weiter geht es richtig mit den Worten „er höret gern ein Lied zu seiner Ehre“. Stattdessen singt mein Sohn: „er höret gern ein Lied zu seiner Erde“. Doch genauso wenig, wie er sich davon abbringen lässt, dass es „Ehre sei Gott in der Höhe“ und nicht „in der Höhle“ heißt, genauso wenig bekommt er das mit dem „Lied zu seiner Ehre“ hin.
Ich finde, das macht nichts. Im Gegenteil. Gott hört gern ein Lied zu seiner Erde. Das ist doch ein interessanter Gedanke. Ein Lied zu seiner Erde kann durchaus ein Loblied sein. Morgens, wenn ich durch die Natur laufe und die vielen Vögel zwitschern höre, der Himmel bilderbuchmäßig blau im Kontrast zum satten nuancenreichen Grün der Bäume und Büsche steht und die Morgensonnenstrahlen den derzeit roten Mohn zum Leuchten bringen, dann kann ich gar nicht anders, als mich innerlich dankbar und voll des Lobes vor dem zu verneigen, der dies alles erschaffen hat.
Doch es könnte auch ein Klagelied sein. Allerdings nicht zu, sondern von seiner Erde. Seiner Erde, die ihm ein Lied zu singen weiß von ihren Schmerzen und Gebrechen, von ihren Narben und offenen Wunden. Die können wir nicht Gott in die Schuhe schieben. Etwa so: Warum hat er die Erde nicht so geschaffen, dass sie das prima mit der Abholzung von Regenwäldern hinkriegt, es keine Plastikunverträglichkeit für Meerestiere gibt und die Luft trotz Abgasen und Co. von allein klar kommt?
Nein, die Wunden und Lasten, die die Erde stöhnen und ächzen lassen (davon schrieb bereits Hildegard von Bingen im zwölften Jahrhundert), sind Menschenwerk. Dagegen ist Gott (scheinbar) machtlos. Einmal dem Menschen die Freiheit gegeben, zu schalten und zu walten, lässt er ihn gewähren.

Das ist doch eine super Voraussetzung, der Erde zum Lobliedsingen zu verhelfen.
 
Andrea Wilke, Erfurt