Blick hinter die Kulissen bei den Proben der Passionsspiele in Salmünster
Wenn Passion zum Alltag wird
Den Jesus spielt ein junger Mann mit Dreadlocks, der nicht an Gott glaubt. Im Mittelpunkt steht der Verräter Judas. Eine Frau, Maria Magdalena, sagt Jesus, wo es langgeht. Die Passionsspiele in Salmünster sind anders, als man sich Passionsspiele vorstellt. Von den Menschen, die mitspielen und ihrer Motivation. Ein Blick hinter die Kulissen. Von Sarah Seifen.
„Du redest wieder nur“, brüllt Judas Jesus ins Gesicht. Er packt ihn an den Schultern, rüttelt ihn. Maria Magdalena steht wenige Schritte hinter den Männern. Mit gesenktem Kopf. „Ich hasse dich!“, schreien Judas und Maria Magdalena gleichzeitig. Stille.
Auf der Bühne in der Pfarrkirche St. Peter und Paul in Salmünster laufen die letzten Proben für die Passionsspiele 2018. Die Szene „Das letzte Abendmahl“ ist an der Reihe. Auf der Holzempore im Hintergrund haben sich die Jünger versammelt und feiern, im Vordergrund spielt die Szene zwischen den drei Hauptfiguren: Jesus, Judas und Maria Magdalena.
„Die zentrale Wende im Stück passiert in der Szene vom Abendmahl“, sagt Sebastian Dietz, der Judas-Darsteller. „Judas stellt fest, dass Jesus nicht das gemacht hat, was er von ihm erwartet hat. Jetzt ist der Punkt, an dem er das Ruder selbst in die Hand nehmen will.“
Vom Jesus zum Judas
Der Mann aus Bad Soden kennt beide Rollen, die des Jesus und die des Judas. Vorher hatte er viele Jahre lang einen der anderen Jünger gespielt. Dreimal ging es für ihn dann als Jesus auf die Bühne der Passionsspiele und nun, nach 17 Jahren als Schauspieler, sollte es Judas sein, der Verräter. Nicht nur, weil die Haare weniger wurden und die Rolle des Jesus rein äußerlich nicht mehr passte, es musste eine neue Herausforderung her. „Judas ist nicht einfach ein geldgieriger Verräter. Das wäre Schwarzweißmalerei“, sagt der 31-jährige Bauingenieur. „Er hat politische Ziele, will, dass Jesus einen Aufstand herbeiführt, damit die Unterdrückung durch die Römer endet.“
Römer mit Speerspitzen tummeln sich im Eingang der Kirche. Sie und die Darsteller des Volkes sind bei den Proben Schauspieler und Zuschauer zugleich. Zwischendurch gibt es ein Stück selbstgebackenes Brot, Tee und Decken zum Aufwärmen. Auch Schuhe und Mützen dürfen bei den Proben noch anbleiben. Bei der Aufführung dann laufen einige barfuß über den Marmorboden der Kirche. Stefanie Zellmann hat immer eine Wärmflasche und eine Thermoskanne dabei. Die Darstellerin der Maria Magdalena ist erfahren. Seit 2003 spielt sie mit und weiß, dass es bei den Proben und Aufführungen kalt werden kann. Was dieses Jahr für sie neu ist: Zum ersten Mal spielt sie eine der Hauptrollen. „Meistens habe ich Männer gespielt, nur einmal war ich Tempeltänzerin. Darum freut es mich besonders, dass ich mal eine Frau spielen darf“, sagt die 30-Jährige. Sie sei überrascht gewesen, als die Anfrage kam, ob sie Maria Magdalena spielen möchte. „Sie ist eine starke Figur, wendet viel Kraft auf, um Jesus zu folgen und bleibt bis zum Ende. Das begeistert mich, auch schauspieltechnisch.“
Aufgewachsen ist Stefanie Zellmann in Salmünster, mittlerweile lebt sie seit zehn Jahren in Mainz und pendelt zu den Proben in ihre alte Heimat. Seit August des vergangenen Jahres finden die jedes Wochenende statt. Dass sie mit 15 Jahren begonnen hat, bei den Passionsspielen mitzumachen, war für sie ein erster Schritt in ihren Beruf. Stefanie Zellmann ist Theaterpädagogin und arbeitet in Frankfurt. Sie spielt in einigen kleinen Theater-Ensembles, die Passionsspiele in Salmünster stehen fest auf ihrem Programm. „Ich möchte meine Heimat unterstützen und es ist immer eine schöne Zeit“, sagt sie. „Man hat sich zwei bis drei Jahre nicht gesehen und doch ist es so, als wäre keine Zeit dazwischen vergangen.“ Denn nicht jedes Jahr finden die Passionsspiele statt, sondern nur alle drei Jahre.
„Was noch ein bisschen hakt, ist die Tempelreinigung“, unterbricht Maria Hummel die Proben. Die Regisseurin kommt mit ihrer Stimme gegen die laute Musik an. In Feinarbeit korrigiert sie die Positionen der Schauspieler, huscht über die Bühne, flüstert etwas ins Ohr eines Darstellers und verschwindet wieder im Kirchenschiff, wo die Technik aufgebaut wurde. „Der Aufwand ist zu groß, um das jedes Jahr auf die Beine zu stellen. Wir schreiben den Text für jede Saison neu, mit einem anderem Thema beleuchtet“, erklärt die 31-Jährige.
„Glaubt. Handelt.“ steht als Leitgedanke über den diesjährigen Passionsspielen. Es sollte ein Thema sein , womit die Menschen sich beschäftigen. „Mit der steigenden Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen, wurde auch der Ruf nach dem Engagement des Einzelnen immer lauter. Klar! Denn, wo viele anfassen, verändert sich eine Situation einfacher und schneller“, hat das Redaktionsteam ihren Leitgedanken ausformuliert. „Um zu handeln, muss man an etwas glauben“, ergänzt Maria Hummel. Das Motto werde an verschiedenen Personen im Spiel deutlich.
Passionsspiele zum Nachdenken
Allen voran: Judas. „Es ist Tradition, dass Judas so eine zentrale Rolle erhält, deswegen behalten wir das bei“, sagt die Regisseurin. Sie wollen zeigen, warum jemand in einer bestimmten Weise handelt, nicht nur, dass der eine böse und der andere gut ist.
Warum wird ein enger Vertrauter Jesu plötzlich zu seinem Verräter? „Jesus ist für Judas immer wieder eine Enttäuschung, weil er seiner Meinung nach nur redet und nichts tut“, sagt Sebastian Dietz. Dennoch glaube Judas an Jesu Macht. Und um die zu beweisen, nutze er das Mittel des Verrats.
„Was dann passiert und die Geschichte überhaupt ist ja bekannt“, sagt Stefanie Zellmann. „Aber die Zuschauer sollen sich darüber hinaus mit der Geschichte auseinandersetzen, indem sie nicht nur lesen und hören, sondern auch sehen, was da vor sich geht.“
Auch die Schauspieler müssen sich erst einmal mit ihren Rollen auseinandersetzen. Sie lesen Hintergrundinformationen und fühlen sich in die Situation der Figuren ein.
Der Schauspieler, der das Leid Jesu nachempfinden muss, ist Maximilian Herget. Der Student stellt Jesus dar. An Gott glaubt der 22-Jährige nicht. Aber er liebt Theaterspielen: „Das ist eine so tiefe und anspruchsvolle Rolle. Jesus war ein Rebell seiner Zeit und auf menschlicher Ebene begeistert die Person mich. Was er alles getan hat und wie er mit den Leuten umgegangen ist, das finde ich toll.“
Die Kreuzigung, die zum Alltag wird
Mit nacktem Oberkörper hängt Maximilian Herget am Kreuz, auf seinen zu Dreadlocks gefilzten Haaren die Dornenkrone. „Es ist nicht schwierig, leidend zu sein, weil es kalt ist und gefühlt 300 Menschen schreien, dass du sterben sollst“, sagt er. „Ich denke mir immer ‚der Arme‘, wenn ich als Maria Magdalena mit Maria unter dem Kreuz liege. Er zittert richtig wegen der Kälte und vor Anstrengung“, fügt Stefanie Zellmann hinzu. Und auch Sebastian Dietz kann dazu etwas sagen: „Es ist schon erträglicher geworden. Die Platte, auf der man steht, ist größer als früher.“ Als wäre es ganz normal, sprechen die drei über die Kreuzigungsszene. Vor der Pizzeria grüßt Stefanie Zellmann einen Mann und erklärt: „Das ist einer unserer Jünger.“
Wenn Spieljahr in Salmünster ist, beherrscht die Geschichte Jesu Christi das Leben im Ort. Für acht Monate tauchen die Mitwirkenden in seine Welt ein. Die Passion ist dann ihr Alltag.