Guy Stern berichtet über die Judenverfolgung unter der Naziherrschaft

„Werner konnte wunderbar Gedichte rezitieren!“

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Wohl noch nie war der Atem der Geschichte im Unterricht am Bischöflichen Gymnasium Josephinum so spürbar wie diesmal. In der Person von Professor Guy Stern kam die Geschichte der Judenverfolgung unter der Naziherrschaft direkt ins Klassenzimmer.


Guy Stern erzählt im Gymnasium Josephinum von sich
und vor allem von seinem Bruder Werner. | Fotos: Deppe

Schon oft hat Guy Stern, der gebürtige Hildesheimer und Ehrenbürger der Stadt, über sich und seine Flucht vor den Nazis erzählt. Doch diesmal steht nicht er im Mittelpunkt, sondern sein jüngerer Bruder Werner. Während Guy Stern, damals hieß er noch Günther, das Andreas-Realgymnasium besuchte (Vorläufer des Scharnhorst Gymnasiums), ging Werner zum Josephinum. „Dass wir nicht beide auf der gleichen Schule waren, lag an der Quotenregelung der Nazis. Jede Schule durfte nur eine gewisse Anzahl jüdischer Schüler aufnehmen. An meiner Schule war die Quote bereits erfüllt. Und so kam Werner aufs Josephinum“, erinnert sich der 96-jährige Stern.

Während er selbst eher der sportliche Typ war, schildert Stern seinen Bruder als Feingeist. „Werner konnte wunderbar Gedichte rezitieren. Er war eher der Literat in unserer Familie und hätte später wahrscheinlich in diesem Bereich auf sich aufmerksam gemacht. Da bin ich mir ziemlich sicher.“

Mit 15 Jahren brachten die Eltern Günther nach Bremerhaven. Ein Onkel in St. Louis ermöglichte die Auswanderung in die USA. Eigentlich war das Ziel, dass der dynamische und sehr selbstständige Jugendliche von Amerika aus die Familie nachholen sollte. „Fast hätte es geklappt“, sagt Stern und bekommt auch heute noch feuchte Augen.
 


Interessiert lauschen die Schülerinnen und Schüler
dem Bericht von Guy Stern.

Die Schülerinnen und Schüler des Geschichtskurses von Lehrer Malte Lischke haben lange nach Werner Stern geforscht. Doch viel wissen sie nicht. Im Gegensatz zu anderen jüdischen Schülern gibt es kein Abgangszeugnis mehr. Deshalb war der Besuch, das mündliche Zeugnis seines Bruders wichtig. „Ich weiß, dass er im Schuljahr 37/38 auf dem Josephinum war. In einem Brief hat er mir geschrieben, wie er den Brand der Hildesheimer Synagoge erlebt hat. Dass er sich weinend auf dem Schulhof in eine Ecke zurückgezogen hat und ein Lehrer ihn nach Haus schickte.“ Stern glaubt, dass Werner noch ein weiteres Schuljahr auf dem Josephinum war, doch dafür gibt es keine Beweise mehr.  

Fest steht, dass die Familie Stern – Vater, Mutter, Bruder Werner und Schwester Eleonore im April 1942 nach Warschau ins Ghetto deportiert und im KZ Auschwitz von den Nazis ermordet wurden.

Guy Stern landete mit der Invasionsarmee in der Normandie, kam dann nach Deutschland, fuhr nach Hildesheim und forschte nach seiner Familie. „Ich kannte hier jede Ecke, jede Straße – doch nichts stand mehr. Fast alles war zerstört. Meine Familie war fort.“

Zurück in den Staaten nahm Guy Stern sein Studium auf, machte Karriere als Literaturwissenschaftler und setzte sich auf vielfältige Weise gegen das Vergessen der Naziverbrechen ein. Aber er hasste nicht, sondern machte sich stark für Versöhnung. Zahllose Schulbesuche  hat er gemacht. „Und so lange ich kann, werde ich mich mit den jungen Menschen treffen und ihnen über die Zeit damals erzählen. Ich trage eine Verantwortung. Ich muss den jungen Menschen klar machen, wie wichtig Demokratie ist und dass so etwas wie damals nie wieder passieren darf.“

Im September werden die Josephiner einen Stolperstein vor ihrer Schule verlegen, der an ihren ehemaligen jüdischen Mitschüler Werner Stern erinnern soll.

Edmund Deppe