Menschen mit Behinderung – Entlohnung in Werkstätten
Wird es Zeit für den Mindestlohn?
Seit Jahren wird darüber diskutiert, wie Menschen mit Behinderung in einer Werkstätte bezahlt werden sollten. Evelyn Schwab hat mit Markus Reiter gesprochen, Leiter des Caritas-Ressorts Behindertenhilfe und Psychiatrie im Bistum Fulda.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales will bis 2023 in einer Studie überprüfen lassen, wie die Einkommenssituation der Werkstattbeschäftigten verbessert werden kann. Denn Hintergründe der Mindestlohn-Diskussion haben auch zu tun mit der geschichtlichen Entwicklung der Werkstätten, mit Gesetzesvorgaben und mit gesellschaftlichen Prozessen rund um den Begriff Inklusion.
„Ich bin hundertprozentig dafür, dass wir überlegen: Wie können Menschen mit Behinderungen mehr Geld zur Verfügung haben und sich damit auch etwas leisten. Das gehört zur Teilhabe in einer Gesellschaft mit dazu.“ So formuliert Markus Reiter, Leiter des Caritas-Ressorts Behindertenhilfe und Psychiatrie im Bistum Fulda. Er fragt aber auch: „Wie bekommen wir das hin? Das ist nicht so einfach.“
Eine völlig andere Welt
Werkstattbeschäftigte gelten gesetzlich nicht als Arbeitnehmer. „Der Begriff Mindestlohn ist gesellschaftlich damit verbunden, dass man in einem Arbeitsverhältnis steht und dass man im Niedriglohnsektor arbeitet“, erklärt Reiter. „Dem gegenüber wird die völlig andere Welt einer Rehabilitationseinrichtung gesetzt. Das sind wir. Aber im Gegensatz zur Reha nach einem Beinbruch ist diese Rehabilitation zur beruflichen Eingliederung nicht zeitlich befristet. Sie können zum Beispiel geistige Behinderung nicht heilen. Aber Sie können die Kompetenzen rausarbeiten, so dass die Menschen sich dann durch die Gestaltung des Umfelds weiterentwickeln.“
Werkstattbeschäftigte besitzen alle Arbeitnehmer-Schutzrechte, haben aber nicht damit zusammenhängende Pflichten. Außerdem erhalten sie Assistenz und soziale Angebote kostenfrei. Dazu gehören Pflege, Ergo- und Physiotherapie, Fahrdienste, Essensversorgung oder gemeinsame Aktivitäten. Die arbeitsbegleitenden Maßnahmen zu Persönlichkeitsentwicklung, ganzheitlicher Gesundheitsförderung und sozialer Eingliederung nehmen die Beschäftigten auch während der Arbeitszeit in Anspruch.
„Der Mensch in den Behindertenwerkstätten erhält ein Plus an Leistung“, erklärt Reiter. Auch staatliche Hilfen zum Lebensunterhalt, abhängig von den Vermögensverhältnissen, zählen dazu. Der Werkstattstatus habe einen weiteren Vorteil, so Reiter: „Die Menschen erreichen nach 20 Jahren automatisch die Erwerbsminderungsrente.“ Für eine normale Altersrente muss erheblich länger gearbeitet werden. Zudem wird ihre Höhe von dem in diesem Zeitraum verdienten Lohn ermittelt. Mit einer Anwartschaft auf die Erwerbsminderungsrente steht man in der Regel später finanziell sehr viel besser da.
Das Gefühl der Anerkennung
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. hat in einer Beispielrechnung zwei verschiedene Einkommenssituationen gegenübergestellt. Das Fazit: eine Werkstattbeschäftigung mit Grundsicherung und ein Mindestlohn bei einer 35-Stunden-Woche erzielen unter dem Strich tatsächlich vergleichbare Werte. Für einen Werkstattmitarbeiter bleiben trotzdem große Unterschiede in der Wahrnehmung. Wem eine anerkannte Berufsausbildung und eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich ist, der soll in den Werkstätten Nachteilsausgleich erfahren. Das Gefühl der Anerkennung für den eigenen geleisteten Einsatz bleibt dabei wichtig. Und das Entgelt ist in unserer Gesellschaft ein wesentlicher Faktor dafür.
Das ganze System der Finanzierung müsste im Grunde reformiert werden. Dieses Argument spricht auch Markus Reiter an: „Das Werkstattsystem hat sich über 40 Jahre lang entwickelt. Will man einen einzigen Punkt rausnehmen, funktioniert das nicht so einfach.“ Den Ruf nach Mindestlohn empfindet er als zu eindimensional. Was genau wäre gerecht? Reiter: „Wir sind verpflichtet, jedem einen Lohn zu zahlen. Egal, wie umfassend seine Behinderung ist. Auch wenn er gar nichts macht. Das ist ein gewisses Solidaritätsprinzip.“ Der Vorwurf mancher Medien an die deutschen Werkstätten bezieht sich darauf, dass sie in ihrem Bereich trotz milliardenhoher Umsätze „an den Behinderten verdienen“ und die wegen der kargen Entgelte von der staatlichen Grundsicherung abhängig machten.
„Es gibt überall genaue gesetzliche Regelungen für uns“, erklärt Markus Reiter mit Blick auf die Caritas-Werkstätten im Bistum Fulda. Für das Fachpersonal, das die Menschen begleitet, und für das Gebäude bekommen die Werkstätten quasi Geld vom Staat. „Was wir verdienen über die Produktion, zahlen wir zu 70 Prozent an Löhnen aus. Die anderen 30 Prozent brauchen wir, um gewisse Investitionen zu generieren.“ Je nach persönlicher Fähigkeit und Interessenlage werden den Beschäftigten einfachste Tätigkeiten bis zu umfassenderen Arbeiten angeboten, etwa für kleine Produktionen, bei denen sich eine Automatisierung nicht lohnt. Heimarbeiter auf dem normalen Sektor sind oft wesentlich schneller. „Mit diesen Leuten konkurrieren wir“, sagt Reiter.
Ist "gerechter Lohn" Mindestlohn?
Auch die Werkstatträte in Deutschland, die gewählten Vertretungen der Beschäftigten, arbeiten seit Jahren daran, wie ein gerechter Lohn aussehen könnte. Ihre Landesarbeitsgemeinschaften sehen in derzeitigen Positionen den Erhalt des Schutz- und Rehabilitationscharakters der Werkstätten sowie der kostenfreien Leistungen vor. Ein Abhängigsein von Transferleistungen wie zum Beispiel der Sozialhilfe sollte vermieden werden. Auch aus deren Sicht bleibe am Ende nur, das derzeitige Entgeltsystem zu hinterfragen und an neuen und gerechten Lösungen zu arbeiten.
Die momentane Gestaltung des gesetzlichen Systems ermöglicht es also gar nicht, dass sich die Einkommenssituation der Werkstattbeschäftigten ohne weitere staatliche Unterstützung verbessern könnte. Damit künftige Entscheidungen unbeabsichtigt nicht etwa bei manchen zu Schlechterstellungen führen, sind viele Seiten zur Mitarbeit nötig – nicht zuletzt Wissenschaft und Politik. Ein wichtiger Schritt könnte die umfassende Sammlung von Informationen sein, die das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) in Bonn im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales inzwischen angeht. Es ist die erste bundesweite repräsentative Erhebung zu den aktuellen Lebensumständen behinderter Menschen in Deutschland.
„Dass es den Leuten und auch uns nicht schnell genug geht, kann man verstehen.“ So räumt Markus Reiter ein. Er bewertet letztlich positiv, dass das „Thema Mindestlohn auf den Tisch kommt und wir darüber diskutieren.“ Denn irgendetwas aus der Diskussion werde bleiben und sich weiter entwickeln. Aber das Ganze sei auch eine gesellschaftliche Bewegung. Reiter: „Die braucht Zeit.“
Von Evelyn Schwab
In der gedruckten Ausgabe Nummer 23 lesen Sie mehr dazu: Was der Behindertenseelsorger im Bistum Mainz, Helmut Bellinger, dazu sagt; wie sich Dr. Elke Groß äußert, die Abteilungsleiterin Alten-, Gesundheits- und Behindertenhilfe beim Diözesancaritasverband in Limburg ist, und wie viele Werkstätten mit wie vielen Beschäftigten es in den Bistümern Limburg, Fulda und Mainz gibt.