Zeit zum Handhalten
Bleibt noch Zeit für die Menschen? Fürs Reden? Fürs einfach Dasein? Ständig muss Altenpfleger Marco Molz zum Computer und dokumentieren, was er gerade getan hat. Molz hat Frühschicht im Franziska-Schervier Seniorenheim in Frankfurt. Eine Schicht zwischen Handhalten und Abhaken. Von Sarah Seifen.
Marco Molz läuft so schnell über den Flur, dass es schwierig ist, hinter ihm her zu kommen. „Ich bin schon im Zeitverzug“, ruft er. Der 28-Jährige ist Altenpfleger im Wohnbereich I des Franziska-Schervier Seniorenpflegeheims in Frankfurt. Die Hälfte der Zimmer hier bewohnen pflegebedürftige Ordensschwestern, die andere Hälfte andere Frauen und Männer. 29 insgesamt.
Um 6.30 Uhr war Schichtbeginn. Molz hat Frühschicht heute. Als er kommt, ist das Licht in den Fluren des Pflegeheims noch gedimmt, draußen surrt die Straßenbahn. Im Haus ist es still. Aber das wird nicht mehr lange so bleiben.
Es ist 7.30 Uhr, als das Telefon beginnt, pausenlos zu vibrieren. Zimmer 113, Zimmer 120, Zimmer 109 erscheint abwechselnd auf dem Bildschirm. Das Telefon hat Marco Molz an seine Gürteltasche geklemmt. Flüchtig wirft er einen Blick auf die Zimmernummern. „Alles nach der Reihe. Wenn es ein Notfall wäre, gäbe es einen anderen Ton.“
Die Bewohnerinnen und Bewohner wollen aufstehen, die Sonne scheint schon durch die Gardinen. Sie brauchen seine Hilfe beim Waschen und Anziehen. Einige brauchen auch seine Hand, um sie einfach zu halten. Doch dafür ist nicht viel Zeit. Der Altenpfleger hat heute die Schichtleitung. Das bedeutet, alles, was er und seine zwei Kollegen heute tun, muss er in einer Liste am Computer bestätigen, hinzufügen oder abändern. „Dafür habe ich weniger Bewohner zu betreuen“, erklärt er.
„Ich komme bald wieder“
„Guten Morgen, Schwester. Ist schon Zeit zum Aufstehen?“ Um 7.35 Uhr betritt Marco Molz das erste Zimmer an diesem Morgen. Am Haken neben der Tür hängt das braune Ordenskleid auf einem Bügel. Der 28-Jährige legt die Hand auf die der alten Frau. Sie öffnet die Augen. „Ich lege Ihnen jetzt die Infusion“, sagt der Pfleger, schaut ihr dabei ins Gesicht. Sie antwortet nicht. Dazu ist sie zu schwach. Molz sticht die Nadel in den mageren Oberschenkel. Seine Hand ist ruhig. Vor der Tür rattert der Pflegewagen. Als Marco Molz gehen will, umklammert die Schwester sein Handgelenk. „Ich komme bald wieder.“ Immer wieder sagt er ihren Namen. Manchmal auch zweimal im Satz.
„Marco!“, ruft ein Kollege von weitem. Geschirr klirrt. Eine Tür knallt. Der Altenpfleger steht wieder auf dem Flur. Und läuft mit großen Schritten auf den Pflegehelfer Florin Schönemann zu. Der macht ein paar Handbewegungen, nickt mit dem Kopf. „Alles klar“, sagt Molz. Sie verstehen sich ohne Worte. Eine Bewohnerin hat sich übergeben. Sie braucht etwas gegen die Übelkeit. Marco Molz sucht nach seinem Schlüssel in der Gürteltasche, damit er den Medikamentenschrank öffnen kann. Und läuft schon wieder weiter. Der Frau gibt er ein Becherchen mit Tropfen. „Ich komme in einer Stunde noch einmal und frage nach, ob die Übelkeit weg ist.“
Begonnen hat der Tag im Pflegeheim für Marco Molz am Schreibtisch: Ist heute was Besonderes? Muss jemand zum Friseur? Wo steht Verbandswechsel an? Marco Molz klickt sich durch die bunten Felder. Jeder Bewohner hat eine eigene digitale Karteikarte. Unter dem Namen stehen Merkmale, die die Bewohner selbst über sich gesagt haben: „Ich bin freundlich, aber ungeduldig“ oder „Ich möchte nicht von Männern gewaschen werden.“ Darunter erscheint der individuelle Tagesplan: „7.30 Uhr: Aufstehen und Waschen, 8 Uhr: Insulin spritzen, Frühstück.“ Hat eine Pflegekraft einen Punkt erfüllt, muss sie ihn in der Liste abhaken.
„Wir haben eine absolute Nachweispflicht“, erklärt Christina Chimm-Orak, die Pflegedienstleiterin des Heims. Seit Januar 2017 gibt es ein neues Dokumentationssystem im Heim. Nicht mehr jedes Tun muss einzeln notiert werden. Nur Abweichungen und Umplanungen bei der Behandlungspflege werden dokumentiert. „Damit sind wir ein großes Stück weiter als noch vor 10, 15 Jahren. Da musste man noch ‚Betten beziehen‘ eintragen“, sagt die 35-Jährige. Sie selbst ist Altenpflegerin. Dass die Informationen so strukturiert gesammelt werden, diene vor allem den Bewohnerinnen und Bewohnern. „Da sehe ich, ob jemand Zucker im Kaffee trinkt oder Rock ’n’ Roll zum Sport hört. Das muss ich nicht jeden Tag neu fragen“, sagt sie.
Das neue System heißt „Strukturierte Informationssammlung“, kurz „SIS“. „Es hat natürlich auch was mit Qualitätssicherung zu tun“, gibt Heimleiter Bernd Trost zu. „Eine Manipulation ist nicht möglich am Computer. Es muss alles ordnungsgemäß zum richtigen Zeitpunkt erfüllt werden.“
Marco Molz sitzt am PC im Pflegerzimmer. „Hat Tropfen erhalten wegen Übelkeit“, tippt er in die Karteikarte der Frau, die sich übergeben hat. Später wird er noch hinzufügen, dass sie angegeben hat, dass sie sich besser fühle. „Ich finde es zu viel, ehrlich gesagt“, sagt der Altenpfleger. „Wir schreiben so viel auf. Das ist wie bei Büchern, die in einer Bibliothek stehen und da guckt nur alle paar Jahre einer rein. Wenn überhaupt.“ Er kenne aber auch andere Dokumentationssysteme und seit es das neue System im Franziska-Schervier Heim gibt, verbringe er weniger Zeit am Computer. Dann geht Molz noch die Punkte der anderen Bewohner durch. Eine viertel Stunde dauert das. Dann muss er los. Es ist 8.30 Uhr: Aufstehzeit für die Frau im hintersten Zimmer des Flurs.
Um 4.55 Uhr ist Marco Molz aufgestanden. „23 Minuten brauche ich zum Fertigmachen, eine Stunde für die Fahrt von der Wohnung zum Heim.“ Für die Morgenpflege der Frau sind 45 Minuten eingeplant.
Ein Lob und viel Geduld
„Schönen guten Morgen.“ Molz schließt die Tür des Zimmers hinter sich, geht ans Bett. Bilder hängen an der Wand darüber, ein paar Kinderzeichnungen, eingerahmt, daneben Fotos von den drei Töchtern, ihren „Mädchen“, und den vielen Enkeln. „Wie geht’s Ihnen? Gut geschlafen?“ Die Großmutter möchte antworten, es geht aber nicht. „Ich gebe Ihnen erst mal Ihr Gebiss, dann geht es besser.“ Ein paar Sekunden später steht er mit zwei Zahnreihen auf der Hand am Bett. Dann stöpselt er den Katheterbeutel ab und leert den Urin aus. Währenddessen steckt die Frau ihre Zähne langsam in den Mund. Sie lächelt. Marco Molz hilft ihr beim Ausziehen des Nachthemds, reicht ihr einen feuchten Waschlappen und wartet, bis die alte Frau einmal durch ihr Gesicht gefahren ist. Alles passiert in Zeitlupe. „Super haben Sie das gemacht“, lobt er anschließend. Er wäscht noch mal nach, dann die Arme, die Achseln und den Rücken und nimmt ein neues Hemd aus dem Schrank. „Möchten Sie dieses heute anziehen?“ – „Nein.“ – „Dann dieses mit den Blumen?“ – „Nein.“ „Das hellblaue?“ – „Nein.“ So geht es die nächsten fünf Nachthemden weiter, bis der Pfleger von vorne beginnt. Bei der zweiten Runde kommt beim Blumennachthemd doch ein „Ja“.
„Das ist selbstverständlich, dass ich frage. So viel Zeit muss sein. Die Menschen sollen selbst bestimmen, was sie tragen“, erklärt Marco Molz. Jeden Schritt erklärt er und fragt nach, ob die Person einverstanden ist. Er lobt und ermutigt. „Drehen Sie sich mal zur Wand. Sie schaffen das.“ Der 28-Jährige öffnet die Windel und beginnt, die Frau im Intimbereich zu waschen. Der Geruch mache ihm nichts aus, sagt Molz. Aber was er gar nicht mag, sind Füße: „Da trage ich Handschuhe, weil ich das eklig finde.“
Seit drei Wochen ist Marco Molz „Examinierte Pflegefachkraft“. Oder „Altenpfleger“, wie auf seinem Namensschild steht. Die Ausbildung dazu dauert drei Jahre. Es ist Marco Molz’ zweite Ausbildung. Sieben Jahre hat der gebürtige Hunsrücker als Koch gearbeitet, bevor er in die Pflege gewechselt ist. Während er erzählt, säubert er eine offene Stelle am Steiß einer Frau. „Das sieht gut aus. Super. Da müssen wir gar nichts mehr drauf machen“, sagt er. Dafür geht er nah an das Ohr der Frau heran und legt den Arm um ihre Schultern. Dann ermahnt er sie: „Aber immer schön bewegen im Bett. Damit es keine neue Druckstelle gibt.“ Sie nickt und lacht.
Seit fünf Jahren ist Marco Molz nun im Franziska-Schervier Pflegeheim in Frankfurt und glücklich. „Ich würde nicht mehr tauschen wollen. Die Arbeitszeiten als Koch waren schlimmer und die Bezahlung auch.“
Mehr als 23.000 Stellen in der Altenpflege sind derzeit in Deutschland nicht besetzt. 13.000 neue Stellen will die Bundesregierung ab dem 1. Januar 2019 schaffen. Pflegekräfte verdienen zu wenig, arbeiten zu viel, hätten wegen der Dokumentationspflicht zu wenig Zeit für die Menschen. Ständig gibt es neue schlechte Nachrichten zur Pflegesituation in Deutschland.
Es fehlt an Ausbildungsmöglichkeiten
„Es mangelt an Fachkräften, nicht an Pflegekräften. Das ist ein Unterschied“, betont Hausleiter Bernd Trost. Dass es zu wenig examinierte Pflegerinnen und Pfleger gibt, liege auch an den fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten. „Hier im Haus investieren wir viel in die Ausbildung und die Leute bleiben bei uns.“ Mehr als 50 Prozent des Pflegepersonals im Franziska-Schervier Heim sind ausgebildete Fachkräfte. 49 Vollstellen in der Pflege gibt es derzeit. Betreut werden 120 Bewohner in der vollstationären Pflege und zusätzlich 19 Demenzkranke im betreuten Wohnen.
Seit vier Stunden arbeitet Marco Molz nun. Er hat den Frühstückstisch gedeckt, Insulin gespritzt, Wunden verbunden, Medizin verteilt, Rollstühle geschoben, immer wieder am PC gesessen, Wasser eingeschenkt. Getrunken hat er selbst noch nichts. Er nimmt sich Zeit für die Menschen. Zeit, um ihre Hand zu halten. Aufgaben teilen sich die Kollegen in der Pflege auf.
Um 10.45 Uhr ist Pause. Am Tisch sitzen Altenpflegerin Schwester Johnsy Perappaden, Florin Schönemann und eine Schülerin, die gerade ein Praktikum im Pflegeheim macht. „Dass wir heute mit zwei Pflegefachkräften Dienst haben, ist besonders, so können wir uns die Arbeit am PC aufteilen“, sagt Molz und will sich gerade zu seinen Kollegen setzen. Dann vibriert sein Telefon. Zimmer 118. Er geht. Als er wieder kommt, ist sein Kaffee kalt. Er trinkt ihn trotzdem.
Verschiedene Berufsgruppen gibt es im Franziska-Schervier Pflegeheim: Pflegefachkräfte, Pflegeassistenten mit einer einjährigen Ausbildung, angelernte Pflegehilfskräfte und Betreuungskräfte, die nicht pflegen, sondern mit den Bewohnern spazieren gehen, einkaufen oder zum Arzt fahren. Sie sind da zum Zuhören. Dafür gibt es auch eine Seelsorgerin im Heim. Das Franziska-Schervier Heim ist ein katholisches Heim. Das merke man an der „Kultur des Hauses“, erklärt Bernd Trost. Es gibt, neben dem Seelsorgeangebot, Gottesdienste am Wochenende. „Vor allem aber leben wir nach franziskanischer Tradition – Franziska Schervier war ja Franziskanerin – : ‚Komm und sieh!‘“ Bunt gemischt sei die Belegschaft aus 30 Kulturen mit ihren jeweiligen Religionen oder ohne Bekenntnis. „Es ist ein gutes Miteinander. Und das merkt man“, sagt Trost.
13.15 Uhr: Marco Molz dreht seine Mittagsrunde durch die Zimmer. Ein paar tausend Schritte wird er an diesem Tag zurückgelegt haben. Einer Schwester muss er noch den Blutdruck messen, das hat er am Morgen nicht geschafft, weil das elektrische Gerät kaputt war. Dann eben klassisch, wie er es in der Pflegeschule gelernt hat. Der Altenpfleger legt die Manschette um den Oberarm der zierlichen Frau, pumpt Luft, streicht über ihre Hand. Sie drückt einen kleinen Stoffbär. „Gleich haben wir es geschafft, Schwester.“
Sie wird nun in ihrem Rollstuhl am Fenster sitzen bleiben, nach draußen sehen. Molz geht zurück zum PC. Seine Schicht endet gleich. Um 14 Uhr löst eine Kollegin ihn ab. Vorher will er noch die restlichen Punkte des Tages abhaken, damit sie Zeit hat für andere Dinge. Handhalten zum Beispiel.