Anstoß 07/2024

Schneewittchen und der Apfel der Erkenntnis

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Smartphone, Smartphone in der Hand – wer ist die Schönste im ganzen Land? So könnte die böse Königin heute ihren mobilen Spiegel fragen. Denn das Ding, welches uns immer wieder von neuem vorspiegeln will, wer und was wir sind, hängt heute nicht mehr an der Wand.

Portrait Guido Erbrich
Guido Erbrich
Senderbeauftragter der katholischen Kirche beim Mitteldeutschen Rundfunk

Wir tragen unsere mobilen Geräte herum und spiegeln uns – und auch die Welt. Was jahrhundertelang nur der Zauberspiegel im Märchen vermochte – denjenigen, der hineinschaut mit anderen zu vergleichen, um dann ein Urteil zu sprechen – kann heute fast jedes Handy. Wir spiegeln auf diese mobile Weise uns und anderen eine Realität vor, die mal stimmt, mal weniger wahr ist.
Das Magdeburger Theater hat das zum Thema eines grandiosen Ballettabends gemacht. Schneewittchen heißt das Programm. Natürlich gibt es auch Zwerge, den Prinzen und Schneewittchen. Über der Bühne hängt ein großer Apfel. Schon in der Bibel hängt diese besondere Frucht am Baum der Erkenntnis, von dem nicht genascht werden soll, was Adam und Eva natürlich trotzdem tun und deswegen aus dem Paradies geworfen werden. Und ein großer Mobiltelefonhersteller trägt den Apfel im Namen und im Logo. 
Im Märchen bringt ein vergifteter Apfel den Tod. Genauer gesagt, eine Seite des Apfels. Da frage ich mich, ob der moderne Apfel nicht auch seine giftigen Stellen hat. 
Auf den Theaterbrettern führt all die Selbstbespieglung und Selbstoptimierung und der Neid auf diejenigen, die sich diesem Spiel entziehen zu faszinierenden Bildern. Es sind schöne und dramatische Szenen, auch lustige und freche mit einem äußerst agilen Ensemble, dass so richtig Freude an dem Projekt zu haben scheint. Und das dem Publikum auf amüsant-ernste Weise zeigt, nehmt euch doch nicht so wichtig. Vergleicht euch nicht mit anderen. Lasst den Neid, der das Leben vergiftet, wie der Apfel der Königin, einfach stecken. Und der Neid kommt, wenn ihr mehr in den Spiegel, als in das Gesicht eures Nächsten schaut. Schneewittchen, der Superstar des Abends, macht das nämlich nicht, auch wenn sich der Spiegel tänzerisch mit aller Energie darum bemüht.

Am Beginn der Vorstellung kam natürlich der Hinweis, dass Handys auszuschalten sind. Nach der großartigen Vorstellung, hat ich erst mal keine Lust, es wieder anzuschalten. Denn die Risiken und Nebenwirkungen wurden an diesem grandiosen Ballettabend deutlich gezeigt.

Guido Erbrich