Aufarbeitung sexueller Missbrauch
Absolute Unabhängigkeit
Seit einem Jahr existiert im Bistum Osnabrück ein Schutzprozess, um sexuellen Missbrauch zu verhindern. Demnächst könnten Historiker aufarbeiten, wie es hier zum Missbrauch kam. Das Bistum Münster geht diesen Weg bereits.
Bischof Franz-Josef Bode hat angekündigt, dass das Bistum Osnabrück die Ursachen für den sexuellen Missbrauch wissenschaftlich aufarbeiten lassen möchte. Einer, der in diesem Bereich bereits tätig ist, ist Thomas Großbölting, Professor für Neuere und Neuste Geschichte. Er forscht für das Bistum Münster.
Wie sind Sie die Aufgabe in Münster angegangen?
Unser Anspruch ist ein doppelter: Wir wollen zum einen möglichst genau und umfassend ermitteln, wie viele Fälle von sexuellem Missbrauch von Klerikern an Schutzbefohlenen es zwischen 1945 und 2018 gegeben hat. Zum anderen werden wir an ausgewählten Fallbeispielen zeigen, wie die verschiedenen Akteure damit umgingen: Wer wusste davon? Wie reagierte die Bistumsleitung, die beteiligte Gemeinde wie auch das unmittelbare Umfeld auf den Missbrauch?
Was können Sie auf diese Weise herausbekommen?
Wir können erarbeiten, welche Strukturen und welche Verantwortlichen den Missbrauch begünstigten und dessen Aufdeckung behinderten. Wir stützen uns dabei einerseits auf die Akten des Bischöflichen Generalvikariats und des Bischofs, andererseits auf Zeitzeugeninterviews mit Betroffenen und Verantwortlichen, ggf. auch Beschuldigten.
Reicht die Erarbeitung einer reinen Statistik, um zu einem guten Ergebnis zu kommen?
Als Team aus der Geschichtswissenschaft haben wir den Anspruch, nicht nur statistisches Material zu produzieren, sondern tatsächlich die Fälle und die damit verbundenen Prozesse zu analysieren. Erst dann, so unsere Überzeugung, lässt sich eine umfassende Aufarbeitung realisieren und auch Verantwortungen und Verantwortliche benennen.
Worauf müssen Sie bei Ihrer Arbeit besonders achten?
Wer eine solche Forschung anstrengen will, der bedarf einer absoluten Unabhängigkeit. In diesem Sinne betreiben wir keine „Auftragsforschung“, sondern analysieren die Zusammenhänge und Strukturen unabhängig vom Bistum. Nur dann können die Ergebnisse wissenschaftlich solide und auch im Sinne einer uneingeschränkten Aufarbeitung hilfreich sein.
Haben Sie uneingeschränkten Aktenzugang?
Den haben wir, und der ist auch unbedingt notwendig. Als ein Team von vor allem Geschichtswissenschaftlern haben wir einen unmittelbaren Zugang zu den Materialien, so dass wir Informationsflüsse und Entscheidungswege gut und umfassend rekonstruieren können. Die Zusammenarbeit mit dem Bistum Münster ist in den ersten sechs Monaten unserer Tätigkeit sehr gut. Für uns haben darüber hinaus die Hinweise von Betroffenen ein besonderes Gewicht, erlauben diese doch, die Vorgänge aus ihrer Perspektive zu analysieren.
Wie lange werden Sie noch mit der Studie beschäftigt sein?
Wir werden am 11. März, 18 Uhr, am Beispiel von einigen Fallstudien im Schloss der Universität Münster erste Ergebnisse präsentieren, um über unsere Arbeitsweise zu informieren und auf die Chancen und Grenzen der Untersuchung aufmerksam zu machen. Abschließend werden wir dann im Frühjahr 2022 eine umfassende Studie vorlegen, die unsere Ergebnisse insgesamt vorstellt.
Kann tatsächlich ein objektives Ergebnis dabei herauskommen?
Trotz aller Bemühungen wird es weiterhin eine Dunkelziffer von Fällen geben, die wir mit unserer Studie auch unter Berücksichtigung aller Bemühungen nicht erfassen werden. Auf Seiten der Kirche bestand lange Zeit kein Interesse daran, diese Fälle zu dokumentieren, das scheint sich inzwischen geändert zu haben. Wie schwer es Betroffenen fällt, über Missbrauchserfahrungen zu sprechen, liegt auf der Hand.
Was erwarten Sie als Ergebnis?
Ohne bereits Zahlen nennen zu können, ist das Phänomen Missbrauch größer, als es bisherige Studien gezeigt haben. Darüber hinaus deutet sich in den untersuchten Fällen jetzt schon an, dass die Münsteraner Bistumsverantwortlichen die Betroffenen und die Opfer des Missbrauchs allenfalls am Rande beachtet haben. Die Sorge und „Fürsorge“ der Personalverantwortlichen bezog sich vor allem auf die Beschuldigten und Täter. Ihnen sollte es ermöglicht werden, ihr Sakrament weiter zu leben und als Priester zu wirken.
Interview: Matthias Petersen