Trauerrituale für Angehörige
Alles ist aus dem Gleichgewicht
Trauer kommt in Wellen und ist nach einem Jahr nicht vorbei. Und doch kann es immer wieder Tage geben, an denen es den Angehörigen besser geht. Warum es hilfreich sein kann, persönliche Trauerrituale für sich zu finden, erläutert Trauerbegleiterin Doris Rattay.
Zusammen mit einem Klinikseelsorger bietet die Religionspädagogin Doris Rattay in Barnstorf Trauerseminare an. Sie hat eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin absolviert und begleitet mit ihrem Kollegen Menschen auf ihrem Weg in der Auseinandersetzung mit ihrer Trauer.
Manche sagen, das erste Jahr ohne den geliebten Menschen sei das schwerste, weil viele „das erste Mal-Tage“ kommen: Das erste Mal Geburtstag ohne die geliebte Person, das erste Weihnachtsfest ohne sie, Ostern, Pfingsten und der Jahresurlaub ohne sie. Aber nach einem Jahr ist die Trauer doch noch nicht vorbei, oder?
Ja, Trauer kommt in Wellen, und selbst, wenn Trauernde das Gefühl haben, es gehe ihnen schon besser, kann es Momente geben, die sie wieder zurückwerfen, die sie daran erinnern, wie sehr die verstorbene Person fehlt. Trauer ist ein Prozess, der sich verändert und Trauer ist individuell verschieden. In der Regel gilt: Je intensiver die Beziehung zu dem verstorbenen Menschen war, um so intensiver ist auch die Trauer.
Das ist aber kein Naturgesetz?
Nein, manche kommen gut mit ihrer Trauer zurecht, manche tragen ein Leben lang eine Resttrauer in sich. Wenn bestimmte Tage kommen, der Geburtstag oder Hochzeitstag zum Beispiel, ist es gut, im Vorfeld zu überlegen, wie diese Tage gestaltet werden wollen, wie man der Trauer um die geliebte Person begegnen möchte.
Es ist doch auch wichtig, das Andenken der verstorbenen Person aufrechtzuerhalten?
Ja, vielen Trauernden tut es gut, von der verstorbenen Person zu sprechen, sich an sie zu erinnern. Das muss gar nicht immer traurig sein, oft gibt es so viele gemeinsame wohltuende Erinnerungen.
In manchen Familien kommen die Verwandten zum Jahrestag zum Gedenken zusammen, aber manchmal machen nicht alle mit.
Ja, und auch das ist in Ordnung. Es gibt Familien, die geben sich gegenseitig Halt. Und andere, in denen bei den Familienmitgliedern die Phasen der Trauer sehr unterschiedlich sind. Wenn die Ehefrau stirbt, ist es ein Unterschied, ob der Vater trauert, er hat seine Lebenspartnerin verloren, oder ob die erwachsenen Kinder um ihre Mutter trauern, sie standen ihr alle unterschiedlich nahe und werden auch unterschiedlich trauern, als Tochter, als Sohn. Der Tod verändert die Familiendynamik und die einzelnen Rollen innerhalb der Familie; leicht nachvollziehbar wird dies am Beispiel eines Mobiles; wenn man bei einem Mobile einen Teil entfernt, gerät das ganze System aus dem Gleichgewicht. Nach dem Tod eines Familienmitglieds müssen die Rollen und Zuständigkeiten in der Familie neu definiert werden. Das ist oft ein schwieriger und langer Prozess und erfordert viel Verständnis.
Auch die Familienmitglieder empfinden die Trauer unterschiedlich?
Ja, denn die eine Art von Trauer gibt es nicht. Jeder und jede erlebt und verarbeitet Verluste auf seine beziehungsweise ihre Art. Und auch jede Kultur hat ihre Art, Trauer auszudrücken und Trauerrituale zu begehen. Die Situationen, in denen wir Trauer emfpinden, lassen sich nicht miteinander vergleichen. Das Umfeld sagt vielleicht über eine Witwe nach einer gewissen Zeit: Die bricht ja immer noch in Tränen aus, und über eine andere Frau: „Die weint ja nie, die trauert ja gar nicht richtig.“ Mit solchen Bewertungen sollte man vorsichtig sein, sich zurückhalten, weil man gar nicht weiß, was die Person wirklich durchlebt. Und wie sie mit ihrer Trauer umgeht.
Manche Menschen richten zu Hause eine Gedenkecke ein.
Ja, für den einen ist es hilfreich, Fotos aufzustellen, vielleicht mit einer Kerze daneben, die man abends anzündet. Oder man hängt Bilder auf oder stellt sie ins Regal. Für manche ist die Bank, auf der man immer zusammen gesessen hat, ein guter Erinnerungsort, für andere ist es der Friedhof, wo sie hinfahren und mit viel Liebe das Grab pflegen. Das ist individuell verschieden. In einem unserer Trauerseminare war einmal ein Mann, der hatte den Mantel seiner Frau im Flur hängen, und immer wenn ihm danach war, umarmte er den Mantel. Eine Frau hat sich am ersten Todestag ihres Mannes ein Tattoo stechen lassen, zur Erinnerung an ihn. Da muss jeder und jede einen eigenen Weg finden. Wichtig ist, dass es zu einem passt. Im Seminar kann man erfahren, wie andere es machen.
Warum sollte ich überhaupt ein Trauerseminar oder ein Trauercafé besuchen?
Viele Trauernde machen die Erfahrung – oder sie nehmen es an –, dass Freunde und Bekannte „es irgendwann nicht mehr hören wollen“, wenn sie von der verstorbenen Person erzählen und wie schwer ihnen das Leben als Witwe oder Witwer fällt. Deshalb ist es manchmal gut, wenn man Menschen trifft, die in derselben Situation sind. In einer Trauergruppe kann man von der eigenen Trauer in einem geschützten Raum sprechen, ohne dass die anderen überfordert sind. Viele suchen einen Ort, wo Trauer Thema sein kann und darf.
Wie wichtig ist es, eine Trauergruppe zu besuchen?
Es gibt Menschen, die machen alles mit sich selbst aus. Manchen tut es aber auch gut, in der Gruppe von den Erfahrungen der anderen zu hören, anderen wiederum sind diese Gespräche zu viel. Es geht ums Zuhören und Aushalten. Im Seminar erzählen die trauernden Menschen von ihren Empfindungen, von Begegnungen, von dem, was schwer fällt, traurig macht und wehtut. Das alles darf sein und darf nicht bewertet werden.
Also muss ich bei Ihnen im Seminar über meine Gefühle sprechen?
Nein, jeder und jede erzählt nur das von sich, was er oder sie sagen möchte. Bei uns gibt es am Anfang immer eine Einstiegsrunde, dann folgen thematisch verschiedene Abende. Unser Trauerseminar legt einen Schwerpunkt auf Informationen. Wir stellen verschiedene Trauermodelle vor, erläutern, wie Trauer verlaufen kann. In manchem können die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sich wiederfinden und feststellen: Ach, das ist jetzt ganz normal, was ich erlebe und wie ich gerade reagiere.
Manchmal fällt es schwer, nach vorne zu blicken, weil man sich vom Verstorbenen nicht mehr verabschieden konnte; das letzte Wort vielleicht ein unfreundliches war.
Wir stellen im Seminar Trauerrituale vor, die helfen können, mit Schuldgefühlen und belastenden Erinnerungen umzugehen. An einem Abend bauen wir mehrere Stationen auf, zum Beispiel die Klagemauer, wo Gelegenheit ist, das anzusprechen, was zu beklagen ist, was schwer ist, und dann dort einen Stein abzulegen, um es symbolisch wegzupacken. Oder Sie schreiben einen Brief an die verstorbene Person und der wird dann in einer Feuerschale verbrannt. An einer anderen Station können Sie einen Text oder ein Wort schreiben oder ein Bild malen, dass Blatt Papier falten wir zu einem Boot und lassen es an der Hunte, die durch Barnstorf fließt, zu Wasser und schicken diese Worte auf Reise. Für religiöse Menschen bieten wir zwei Stationen in der Kirche an, dort besteht zum Beispiel die Möglichkeit, sich segnen zu lassen.
Interview: Andrea Kolhoff