Hirnforscher: "Lieblosigkeit macht krank"

Alte Kränkungen überwinden

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Schon als Kinder lernen wir, Erwartungen zu erfüllen. Wer eigene Bedürfnisse unterdrückt, kann lieblos werden, schreibt der Hirnforscher Gerald Hüther in seinem neuen Buch „Lieblosigkeit macht krank“. Um Selbstheilungskräfte zu aktivieren, braucht es Veränderungen.


Ein Kind erobert sich mit Gestaltungsfreude und Entdeckerlust die Welt. Manche werden durch die Erwartungen ihrer Eltern ausgebremst. Foto: iStock/FamVeld

Die These
Statt so zu leben, „wie es unserer Natur entspricht“, ließen sich die meisten Menschen von Vorstellungen leiten, die sie von anderen übernommen haben: Eltern, Erzieherinnen, Lehrer, Ausbilder und Vorgesetzte. Die Menschen seien darauf gepolt, die Erwartungen der anderen zu erfüllen, auch wenn dies dem eigenen inneren Kompass entgegensteht. 
Hüther erläutert das wie folgt: In der menschlichen Entwicklung stehen für das Kind zunächst Entdecker- und Bewegungsfreude und die Lust am Gestalten im Vordergrund. Das Kind lernt sprechen, laufen, entdeckt seine Umgebung, probiert vieles aus. In der Sandkiste backt es Förmchen nach eigenem Gutdünken, nicht, wie Papa das will. 
Doch bald trifft das menschliche Grundbedürfnis nach Autonomie auf das andere psychische Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit. Das Kind möchte mit seinen Bezugspersonen verbunden sein und lernt, ihre Anforderungen zu erfüllen. Es unterdrückt die Erwartung, es werde so geliebt, wie es ist. 


Kohärenz – im Einklang sein
Ein Mensch ist mit sich im Reinen und im besten Fall glücklich, wenn alles gut passt. Neurobiologen nennen es  Kohärenz, wenn das, was Menschen sich wünschen, und das, was sie in der Realität erleben, übereinstimmt.  
Kinder, die von einer wichtigen Bezugsperson „zum Objekt von deren Erwartungen und Vorstellungen, Belehrungen und Bewertungen, Maßnahmen und Anordnungen“ gemacht werden, erleben das als Inkohärenz und als „tiefreichende Verletzung ihrer Grundbedürfnisse“, so Hüther. Sogar im Gehirn von Erwachsenen, die aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen und an der selbstbestimmten Gestaltung ihres Handelns gehindert werden, komme es zur Aktivierung der gleichen neuronalen Netzwerke, die auch dann aktiviert werden, wenn sie körperliche Schmerzen erleiden.


Anpassungsleistung im Gehirn
Als Kind haben viele Menschen ihr Grundbedürfnis nach Autonomie und ihre Freude am Gestalten unterdrückt, um das lieblose Verhalten der Bezugsperson, zu der man sich zugehörig fühlt,  zu verdrängen. Dafür hat das Gehirn bestimmte Anpassungsleistungen erbracht. Schmerzsignale des Körpers, die auf denselben neuronalen Bahnen unterwegs sind, werden später unterdrückt, den Erwachsenen geht ein wesentlicher Baustein der Selbstfürsorge verloren. 


Ist Änderung möglich?
Doch warum sollte es so schwer sein, im Erwachsenenalter krankmachendes Verhalten abzulegen? Dem steht oft das in der Jugend geformte Selbstbild entgegen. Das Gehirn, welches für körperliche Abläufe – beispielsweise beim Autofahren – auf Automatismen zurückgreift, nutzt diese auch, „um unser Verhalten energiesparend zu lenken“, schreibt Hüther. Die dafür im Gehirn herausgebildeten Muster bezeichnen wir im Deutschen als Einstellungen und innere Haltungen. Die inneren Haltungen, die ein Mensch entwickelt hat, beruhen auf bisher im Leben gemachten Erfahrungen. Auf solche Haltungen zurückzugreifen, funktioniere fast immer automatisch, so Hüther, „und verbraucht weniger Energie, als jedes Mal darüber nachzudenken, welche Verhaltensweisen in bestimmten Situationen angemessen und zielführend sind“. Zu solchen erworbenen Haltungen gehören Entdeckerfreude und Offenheit, aber auch Neid oder Geiz. 


Neues Verhalten einüben
Um also zu einer neuen Haltung zu kommen, müssen Menschen positive Erfahrungen mit dem angestrebten Verhalten sammeln. Wer künftig über den Schatten des Misstrauens springen will und gerne freundlicher und offener zu anderen wäre, muss solch ein Verhalten einüben. Im Urlaub kann man es ausprobieren: freundlich zu anderen sein, jemanden anlächeln, jemanden um Hilfe bitten, und dann die Erfahrung machen, dass die andere Person hilfsbereit ist und mir den Weg zeigt. Veränderung könne gelingen, wenn die Person eine neue Erfahrung macht, sagt Hüther. Unser Gehirn sei zeitlebens umbaufähig. 


Selbstheilung aktivieren
In Hüthers Buch geht es nicht ums Kranksein, das durch äußere Umstände verursacht wurde, zum Beispiel der Beinbruch nach einem Skiunfall. Hüther spricht von Erkrankungen, die sich schleichend anbahnen und von den Betroffenen ignoriert werden. Viele dieser Zivilisationskrankheiten ließen sich vermeiden, wenn die Menschen ihre Angst überwinden und besser auf ihre Selbstheilungskräfte vertrauen könnten. Dazu brauche es mehrere Faktoren.

Hüther bemüht das Bild des dreibeinigen Hockers, der uns stützt. Das erste Bein ist das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen, aufgrund der Tatsache, dass man in seinem Leben schon Probleme gelöst und Gefahren überstanden hat. Weil man nicht alles im Alleingang schafft, ist das zweite Bein das Vertrauen auf gute Freunde und Verwandte, von denen man weiß, dass sie mich stützen. Das dritte Bein sei „der Glaube daran, dass es wieder gut wird“. Beneidenswert seien all jene, die sich vorstellen könnten, dass es im Universum etwas gibt, „das ihr Leben beschützt und bewahrt“. 
 

Fazit
Hüthers Analyse, dass in einer  Leistungsgesellschaft viele Menschen in krankmachenden Zwängen feststecken, ist richtig; seine Empfehlung, freundlicher zueinander und liebevoller zu sich selbst zu sein, ebenfalls. Schon in der Bibel steht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die Rolle des Glaubens hat Hüther aber nicht untersucht. Dabei meistern viele Menschen ihren bisweilen schweren Alltag, weil sie mit Gottvertrauen durchs Leben gehen, weil sie an Gottes Zusage glauben, dass er sie bedingungslos annimmt, wie sie sind.  

Andrea Kolhoff

Gerald Hüther, „Lieblosigkeit macht krank“, Herder-Verlag, 18 Euro.