Atzmänner: Gottes stumme Diener

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Sie sind ganz eigene Persönlichkeiten: die Atzmänner. Seit hunderten Jahren tun diese Pultträger ihren Dienst. Anja Lempges vom Dommuseum Mainz weiß alles über die faszinierenden Männer aus Stein. Wer Atzmänner sehen will: auf nach Fritzlar, Mainz, Limburg, in den Rheingau und nach Frankfurt!

Frau Dr. Lempges, was ist ein Atzmann?  

Ein Atzmann ist eine lebensgroße Menschengestalt in liturgischen Gewändern, und dieser Diakon oder Subdiakon hält eine an die eigene Brust gelehnte Pultplatte: ein stummer Diener, meist aus Stein. Seiner Form nach Skulptur, seiner Funktion nach ein Möbel, ein Pult. Die Atzmänner sind eine selten gebliebene Bilderfindung des Spätmittelalters. Den ersten vermute ich 1239, die letzten wurden um 1520 hergestellt, später entsprachen sie nicht mehr dem Zeitgeschmack.  

Sie haben den Atzmännern zehn Jahre Ihres Lebens gewidmet: Was fasziniert Sie daran?  

Wenn man in den Kirchenraum eintritt und es steht einem unvermutet ein Atzmann gegenüber, gibt es einen winzigen Moment, in dem man da einen echten Menschen sieht. Und das zieht einen in Bann und fasziniert noch heute. Die Erfindung des Atzmanns war um 1250 eine visuelle Revolution, die Atzmänner waren die ersten Skulpturen in den Kirchen, die nicht einen Heiligen oder eine biblische Person dargestellt haben und den realen Menschen direkt gegenüberstanden.  

Wieviele Atzmänner gibt es?  

Es sind 19 bekannt, die in meinem Buch dokumentiert sind. Ein weiterer, der voraussichtlich noch dieses Jahr vorgestellt wird, ist erst vor kurzem gefunden worden. Ich habe aber hoch und heilig versprochen, noch nichts darüber zu verraten. Er ist fragmentiert, aber von hoher Qualität, und er ist an sehr prominentem Ort gefunden worden.  
Es wird also gegen Ende dieses Jahres noch eine Atzmann-Sensation geben.  
Ja, und ich bin mir sicher, dass es noch einige Skulpturen gibt, die ehemals ein Atzmann waren und die dann umgearbeitet wurden, weil sie irgendwann nicht mehr en vogue waren. Spätestens ab dem 17. Jahrhundert fand man Engel viel schicker als Diakone, und dann hat man die alten Jungs aussortiert.  

Welchem Atzmann sind Sie zuerst begegnet?  

Dem Atzmann aus dem Dommuseum Limburg. Er ist genauso groß wie ich, wir haben uns vis à vis gegenübergestanden, er ist vollplastisch ausgearbeitet. Auch die Rückseite ist höchst aufwendig gestaltet, die Steinoberfläche ist so bearbeitet, dass sie eine Textiloberfläche vorgibt. Ich war fasziniert davon, dass Menschen vor 500 Jahren oder vor 700 Jahren versucht haben, eine Skulptur so nach dem Leben zu arbeiten. Und ich habe mich gefragt, wozu?

Ja, wozu?  

Wenn wir heute an Liturgie denken, denken wir an die Eucharistiefeier, bei der der Altar das Zentrum bildet. Das ist aber nur eine Form der Liturgie, die andere ist die Tagzeitenliturgie: das Singen der Psalmen, das Lesen der Texte des Tages… Die 24 Stunden des Tages werden durch sieben Gebetszeiten gegliedert, wovon wir heute vor allem noch die Vesper kennen.  
Im Mittelalter hatten die Kanoniker einer Stiftskirche die Chorpflicht und sollten sieben Mal innerhalb von 24 Stunden im Chor zusammentreten, jeder an seinem Platz im Chorgestühl, und dann wurde gebetet und gesungen. Die Kleriker kamen so der Aufforderung Christi nach: „Wachet und betet!“ In ihrer Mitte stand der Atzmann, das Pult des Kantors.  

Wer hat den Atzmann erfunden?  
 

Ich bin mir sicher, dass der Ur-Atzmann um 1239 vom sogenannten Naumburger Meister erfunden wurde. Das ist ein Notname, wir kennen den Namen dieses erstklassigen Bildhauers nicht mehr, und er heißt so, weil sein Hauptwerk im Naumburger Dom an der Saale zu finden ist. 1239 zur Weihe des Westchors in Mainz muss der Westlettner fertig gewesen sein. Der Westchor war durch diese Architektur und Skulptur des Naumburger Meisters geprägt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein Gesamtensemble vom Naumburger Meister und seiner Werkstatt machen lässt und die zentrale Figur, das Pult für den Vorsänger, einem anderen Künstler überträgt. Dieser Ur-Atzmann ist heute leider verloren.

Der Naumburger Meister und seine Auftraggeber, das Mainzer Domkapitel, müssen mutig gewesen sein, sie haben ganz neu gedacht. Denn um den ersten Atzmann zu machen, musste man Skulptur ohne Architektur denken, das gab es so damals noch nicht. 1239 war das Ensemble im Mainzer Dom fertig, und erst 1682 macht man sich daran, den Lettner des Naumburger Meisters abzutragen, und in dieser Zeitspanne muss der Atzmann da gestanden haben, vermutlich noch länger.  

Jahrhunderte lang war er Vorbild und Mahnung?  

Die Tagzeitenliturgie im Mittelalter war eine zeiteinteilende und zeitraubende Aufgabe, schön und anstrengend. Und die Domherren haben sich häufig, später sogar sehr häufig, bei ihrem Dienst vertreten lassen von Vikaren, die ihre Gebets- und Gesangsleistung zu erbringen hatten. Der Atzmann aber war immer da, stand immer zu Gottes Lob bereit. Es gibt eine Quelle, nach der auf der Rückseite des Mainzer Ur-Atzmanns stand: „Durch würdigen Gesang spendet dem Himmlischen Lob.“ Der Atzmann war ein Vorbild, nicht nur durch die Schönheit, in der er gestaltet war, auch durch seine dauernde Präsenz.  

Interview: Ruth Lehnen


Anja Lempges: Der Atzmann – stummer Diener für lautes Lob,  
mit großformatigen farbigen Fotos von Marcel Schawe, Schnell und Steiner, 288 Seiten, 76 Euro


TIPP

Eine Auswahl

  • Der Atzmann aus Fritzlar ist qualitativ hervorragend gemacht. Man sieht, dass sich der Bildhauer Gedanken gemacht hat, wie ein zierlicher Subdiakon einen schweren Codex hält.
  • Der Atzmann aus der ehemaligen Mainzer Benediktinerkirche St. Jakob (heute Dommuseum Mainz) hat viel mitgemacht. Er war Feuer und Witterung ausgesetzt.
  • Der Atzmann aus dem Frankfurter Bartholomäusdom dient als Trägerfigur für das Sakramentshäuschen.
  • Der Atzmann aus Marienhausen im Rheingau ist aktuell in Bonn in der Zisterzienserausstellung zu sehen.