Exerzitien – und was sie mit der Landschaft zu tun haben
Auf dem heiligen Berg in Bingen
Unter den Bergen ist der Rochusberg in Bingen ein Zwerg, er ist ja nur 217 Meter hoch. Aber in meinem Herzen ist er ein richtiger Berg, sogar ein heiliger Berg. Oft war ich dort zu Exerzitien. Eine Orts- und Seelenerkundung von Ruth Lehnen.
Meine ersten Erfahrungen mit dem Rochusberg habe ich als Journalistin gemacht, die herausfinden sollte, warum um Gottes willen sich Menschen dorthin zu Exerzitien zurückziehen, um neun Tage (!) zu schweigen. Das erschien mir 2014 völlig unverständlich und eine sinnlos quälende Übung. Hat Gott uns nicht die Stimme gegeben, um uns zu verständigen und lauter schöne Worte zu machen? Aber meine Auskunftgeberin machte mich neugierig: Diese Zeit sei eine Quelle der Kraft für sie, eine Wohltat. Wie ein Brunnen, aus dem sie jedes Jahr schöpfen dürfe. Und sie ging mit mir zum Brunnen im Kräutergarten des Hildegardforums, aus dem man zwar nicht schöpfen kann, aus dem aber die Bienen trinken, wie ich später gelernt habe. Kurzum, sie hatte mich am Haken, die Neugier. Und so wurde ich ein regelmäßiger Gast im Kardinal-Volk-Haus, Zentrum für Glaubensvertiefung des Bistums Mainz, und ja, auch ich schweige da. Was jemand erlebt in Exerzitien – geistlichen Übungen – ist nicht leicht in Worte zu fassen. Aber einen Versuch ist es wert. Gern nehme ich den Umweg über den Berg, den Rochusberg.
Beim Exerzitienmachen ist eine der ersten Übungen, mal nicht viel zu machen. Zum Beispiel geben einem die Exerzitienbegleiter die Aufgabe, einmal „achtsam“ zu gehen, das heißt, ganz langsam, und genau aufzunehmen, was um einen herum ist. Möglichst mit allen Sinnen. Schon der erste dieser Spaziergänge hat mich gelehrt, dass die Mauer um das Kloster der Kreuzschwestern rau ist und dass die Rosen hier sehr gut duften. Wer Augen hat zu sehen, sieht hier sehr weit. Ich lernte den Nussbaum kennen, dem seitdem immer mein erster Weg gilt: Vom Exerzitienhaus geradeaus ein Stück den Berg herunter, die Asphaltstraße lang, dann links. Es gibt sehr viele Bäume auf dem Rochusberg, aber dieser, der allein steht und auf den Rhein zu blicken scheint, hat mich schon in allen Stimmungen gesehen, aufgewühlt, traurig, fröhlich, trotzig, müde. Er hat immer gleichmütig auf mich reagiert, nur jüngst schien er mir geschwächt, ein seltsamer Rost hat sich auf seinen Blättern breitgemacht, und ich bekam es mit der Angst um ihn zu tun.
Die Gefühle! Wenn man wenig spricht und viel Zeit mit sich allein verbringt, werden sie nicht etwa auch ruhig, sondern nutzen den frei gewordenen Raum, um sich auszubreiten. Da braucht es ein bisschen Mut, sich das anzugucken, diesen merkwürdigen Menschen, der man selber ist, und hin und wieder muss man davonlaufen. Dann umrundet man den Rochusberg, rennt manchmal richtig, oder schleicht, etwa eine Stunde braucht es, um einmal drumherum zu kommen.
Begegnung mit den Tieren: Kühe, Schafe, Vögel, Eidechsen, Fledermäuse
Man begegnet den Tieren. Als da sind: die Kühe, die Schafe, die Pferde, die Vögel, die Raubvögel, die Eidechsen, die Fledermäuse. Die Hunde der Spaziergänger. Je nachdem, wie die innere Lage ist, lernt man von ihnen. Von den Schafen die Scheu, von den Kühen den Gleichmut, von den Vögeln den Drang nach Freiheit, von den Eidechsen die Liebe zur Sonne.
Weil der Rochusberg so schmal ist, gibt es Ausblicke nach allen Seiten. Die schönste Aussicht ist die unterhalb der Rochuskapelle auf den Rhein. Eine Insel liegt im Rhein, der hier mächtig und ruhig dahinfließt, der König dieser Landschaft. Wie klein sind wir und wie neu im Verhältnis zu diesem Wasser! Ein paar Schritte weiter, auf der Höhe des Oblatenklosters, geht der Blick in die Weinberge. Wandert man weiter nach Norden zu, sieht man im Blauen Richtung Donnersberg, und dann kommt die Nahe in Sicht. Und wenn die Runde sich rundet, sieht man Bingen und am anderen Ufer die Germania, das große Kriegsdenkmal im Rheingau. Unten, tief unten, ziehen die Schiffe und die Züge fahren, und für einmal hast du nichts damit zu tun und kannst sie ziehen lassen. Das tut gut.
Sich auf dem Berg mit der inneren Landschaft befassen
Eine Zeit auf dem heiligen Berg eröffnet die Chance, sich mit der inneren Landschaft zu befassen. Welches Haus ist da ganz von Efeu überwachsen, sodass kein Eingang mehr zu finden ist? Welcher Teil welchen inneren Baums ist abgestorben, während der andere Kirschen trägt? Wessen gedenkst Du, wenn Du den Erinnerungsstein an der Straße siehst, „Geliebt und unvergessen“? Und wenn Du am Haus der Oblaten dem heiligen Christophorus begegnest: Wer trägt Dich, wenn es eng wird? Welcher Pfad schreckt Dich, weil er dunkel ist?
All diese inneren Auseinandersetzungen haben bei vielen Leuten, die sich im Schweigen üben, kreative Schübe zur Folge: Ich habe auf dem Rochusberg schon Menschen mit Kastanien und Stöcken basteln sehen, sie haben Steine bemalt oder angefangen zu dichten, sie reißen Weinblätter ab, um über das Gleichnis von Weinstock und Reben zu meditieren, und einmal, als es die Hühner der Kreuzschwestern noch gab, hat eine werdende Pfarrerin von Hand winzigkleine Hühner aus Stoff genäht, die sogar Eier legen konnten – das waren klitzekleine Steine. Das Entzücken darüber war groß, denn wie Friedrich Schiller gesagt hat, ist der Mensch ganz Mensch da, wo er spielt. Er ist da Mensch, wo er den Schöpfergeist wehen lässt, und wo die Inspiration dieser herrlichen Umgebung sich ihre Wege suchen darf. Denn diese Freiheit gibt es dank der Menschen vom Kardinal-Volk-Haus, dem Exerzitienhaus des Bistums Mainz auf dem Rochusberg: Die Exerzitienbegleiter haben ein wunderbares Vertrauen in Gottes Geist, dass er die Menschen lenken und beleben kann. Obwohl sie im Haus recht strenge Regeln aufstellen und es zum Beispiel gar nicht gern sehen, wenn jemand zu spät kommt, sind sie geistlich gesehen ganz frei, sie manipulieren einen nicht, sie können warten, und verstehen sich nicht als Macher, sondern als Begleiter. Und so lehren sie einen geduldig – das braucht Zeit – sie vertrauen den Worten der Bibel, die sie auslegen auf die menschenfreundlichste Weise, und sie bedrängen einen nicht.
Das sind die Gaben des Bergs: Farben und Licht, Töne und Weite
Nach und nach lernen die Gehetzten und Verbrannten, die Verletzten und Müden, dass sie hier ausruhen dürfen, und dass Beten zwar einerseits heißt, dem Herrn wie einem Freund alles zu sagen, aber auch, ihm zuzuhören. In der Stille zu sitzen, in der manchmal ein Wunder geschieht, dass etwas auf einmal völlig anders aussieht als noch vor kurzem, aber manchmal geschieht in der Stille auch nichts. Und das sind die Exerzitien, für die der Rochusberg all seine Gaben gibt: die
Farben, das Licht, die Töne – das Gezwitscher und auch die Rasenmäher – das
Wehen des Windes und die Weite, den Anblick der Tiere und Pflanzen, die Arbeit an der Ernte, die Wegzeichen und Kreuzzeichen und Wanderzeichen, die Kapelle als Blickfang. Und die Felsen, auf denen alles ruht.
Ruth Lehnen
Zur Sache: Kardinal-Volk-Haus in Bingen
Das Kardinal-Volk-Haus Bingen ist das Gästehaus der Diözese Mainz für Exerzitien und Besinnungstage. Hier hat das „Zentrum für Glaubensvertiefung und Spiritualität im Bistum Mainz“ seinen Sitz. Das Bistum hat die Schließung des Betriebs Ende 2022 angekündigt. Das Exerzitien-Kursprogramm werde bis Herbst 2022 fortgeführt.
Das Kloster Jakobsberg in Ockenheim soll in Zusammenarbeit mit den Missionsbenediktinern von St. Ottilien als geistliches Zentrum für die Diözese Mainz entwickelt werden, die Exerzitienarbeit auf den Jakobsberg verlagert werden. (nen)
Zur Sache: Ein Buch über den Rochusberg
„Erlebtes und Erlauschtes vom Rochusberg – Geschichten vom Heiligen Berg Bingens“ – so hat Pater Günther Kames sein Buch genannt, das er zusammen mit Rüdiger Heins herausgegeben hat.Es ist vor kurzem im Hildegardforum in Bingen vorgestellt worden Darin spielen das Rochusfest und die Rochuskapelle eine große Rolle. Aber auch das Rupertuskloster der Oblaten und das Kloster der Kreuzschwestern kommen vor, ebenso wie prägende Gestalten des „Heiligen Bergs“ wie Pater Josef Krasenbrink.
Der Mainzer Domkapitular Franz Rudolf Weinert feiert den „Berg der Berge“, und seinen Geburtsort Bingen: „Rochusfest, das ist für mich schon immer das schönste Binger Fest gewesen; diese Verbindung von Glauben, Volksfrömmigkeit und Geselligkeit.“
Goethe darf nicht fehlen: Am 16. August 1814 war der Dichter unter den Pilgern, wie die „R(h)eingeschmeckte“ Gabriele Podzierski schreibt.
Berührend ist der Bericht des heutigen Dresdners Frank Müller-Wohlfahrt, der auf seine Vergangenheit als „Kinderheim-Kind“ auf dem Rochusberg zurückblickt: „Ich zehre bis heute von den zahlreichen schönen Erinnerungen an den Rochusberg und bin bis heute dankbar...“. Frank Müller-Wohlfahrt über die Kreuzschwestern: „Die Schwestern ... strahlten Respekt und Würde aus, zeitgleich waren sie aber auch freundlich und fröhlich.“ Pfarrer Walter Mückstein hat eine „Einladung zum Gebet in der Corona-Krise“ zum Buch beigetragen.
Ein Buch voller Geschichte(n) und Anekdoten für Freunde des heiligen Bergs, in dem auch der obenstehende Text abgeduckt ist. (nen)
„Erlebtes und Erlauschtes vom Rochusberg. Geschichten rund um den Heiligen Berg
Bingens“, von Günther Kames und Rüdiger Heins herausgegeben, edition maya,
12,80 Euro, zu bestellen per E-Mail: kames@oblaten.de