Jüdische Bestattungen mit eigenen Riten

Auf dem jüdischen Friedhof in Köln

Innerhalb von 24 Stunden soll ein jüdischer Verstorbener beerdigt werden. Ein Besuch auf dem jüdischen Friedhof in Köln.

Daniel Lemberg ergreift beherzt die Deichsel des alten schwarzen Sargwagens und zieht los. Gemessenen Schrittes geht es von der Trauerhalle quer über den Jüdischen Friedhof zum frisch ausgehobenen Grab. Hier soll der Sarg in die Erde gelassen werden. Es ist die letzte Ruhestätte für einen 88 Jahre alten Mann. Etwa 40 Angehörige und Freunde gehen langsam hinter dem zweiachsigen Wagen her, den Friedhofsverwalter Lemberg mit eigener Kraft zieht. Mehrere Männer laufen neben dem Wagen und haben ihre Hände auf den Sarg gelegt.

Der Trauerzug begleitet den Toten, der aus der Ukraine stammte und an diesem Herbsttag auf dem Friedhof in Köln-Bocklemünd bestattet wird. Er war zuletzt Mitglied der Synagogen-Gemeinde Köln, die nach eigenen Angaben die älteste Jüdische Gemeinde nördlich der Alpen ist. Neu gegründet nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ist sie eine orthodox geführte Einheitsgemeinde.

Der zu ihr gehörende Jüdische Friedhof Köln-Bocklemünd von 1918 ist die größte jüdische Ruhestätte der Stadt - und ein interessanter Ort: mit seinen Gräbern aus dem frühen 20. Jahrhundert, auf denen herbstlich braune Eichenblätter liegen, neuen, individuell gestalteten Grabstellen, einem Gedenkort für die Opfer der Schoah und einem dreiecksförmigen Denkmal für im Ersten Weltkrieg gefallene jüdische Soldaten. Es ist ein Gang durch die Geschichte.

Auf dem Gelände liegen Persönlichkeiten begraben wie der Warenhauskonzerngründer Leonhard Tietz (1849-1914), der Soziologe Alphons Silbermann (1909-2000), der frühere Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Alexander Ginsburg (1915-1996), oder die Schriftsteller Alfred H. Unger (1898-1989) und Wilhelm Unger (1904-1985). Rund 6.200 Grabstellen gibt es hier insgesamt.

 

Särge ohne Metall

Das Gelände könnte eine ruhige Oase sein, wenn es nicht von zwei stark befahrenen Straßen flankiert würde. In der großen Trauerhalle und ihren Nebengebäuden vorne am Eingang ist davon noch nichts zu spüren. Dort gibt es nach Frauen und Männern getrennte Waschräume, in denen die Leichname vor ihrer Beerdigung nach jüdischem Ritus gewaschen werden, und ein Sarglager. Die Särge sind Spezialanfertigungen - ohne Metall. Denn: "Metall ist ein Symbol für Gewalt und Krieg", erklärt Lemberg.

Zwischen Tod und Begräbnis vergeht im Judentum in der Regel nicht viel Zeit. "Ein Toter soll nicht über Nacht unbestattet liegen", erklärt Lemberg mit Blick auf die Halacha, das jüdische Religionsgesetz. "Ein Verstorbener darf in Nordrhein-Westfalen in der Regel aber frühestens nach 24 Stunden beerdigt werden", fügt er hinzu, und so hält es auch er. Der großgewachsene Mann im schwarzen Anzug macht einen zupackenden und unaufgeregten Eindruck.

Gewaschen werden die Toten vor der Einsargung von ihm und weiteren, ausgesuchten Männern beziehungsweise Frauen der Gemeinde, die in einer "Beerdigungsbruderschaft", der Chevre Kaddischa, ehrenamtlich für Bestattungen zur Verfügung stehen - zum Beispiel auch für das benötigte Minimum an zehn jüdischen Männern («Minjan»), um den Kaddisch, das Totengebet, zu sprechen. Denn nicht jeder Tote hat eine relativ große Trauergesellschaft wie der 88-Jährige.

Auch dessen Körper wurde gewaschen. Danach hüllten die Helfer ihn in einfache, weiße Baumwollkleidung: Hose, Hemd, Stoffschuhe, die jüdische Kopfbedeckung Kippa und Gebetsschal, den Tallit. Frauen bekommen alternativ Haube und Schürze. "Die Kleidung stammt aus Israel", erklärt der Friedhofsverwalter.

Für die Trauerfeier steht der schwarze Sargwagen in der Trauerhalle aus den späten 1920er Jahren. Wie bei orthodoxen Juden üblich, sitzen in dem hohen Raum Frauen und Männer getrennt. Über ihnen spannt sich ein auf die Decke gemalter Sternenhimmel. Er passt gut zu Psalm 16, der hier verlesen wird und der Zuversicht und das Vertrauen in Gott ausdrückt. Vorne am Pult steht an diesem Tag Zvi Pinsel, der als Kantor fungiert; Rabbiner Menachem Mendel Schtroks hält eine kurze Ansprache, die Schwiegertochter des Toten ebenfalls.

 

Ein Brauch aus dem Midrasch

Danach übernimmt Lemberg den Sargwagen und setzt sich an die Spitze des Trauerzuges. Er wird mehrmals innehalten - "ein Brauch, der bereits im 'Midrasch', der mündlichen Form der Schriftauslegung, erwähnt wird", wie er erklärt. Das geschieht etwa am Schoah-Mahnmal, einem hoch in den Himmel ragenden Stein mit Davidstern und zwei niedrigen Podesten links und rechts, auf denen als Zeichen des Erinnerns viele Steinchen liegen. Auf Plaketten wird 11.000 Gemeindemitgliedern gedacht, die zwischen 1933 und 1945 Opfer der Nationalsozialisten wurden, unter ihnen Rabbiner Isidor Caro, der 1943 im KZ Theresienstadt ums Leben kam.

Weiter geht es durch den älteren Teil des Friedhofs bis in das hintere Areal. Hier wird es bunter, neben Steinchen liegen auch künstliche Blumen auf den Gräbern, deren Steine vielfach osteuropäische Namen und kyrillische Schriftzeichen tragen. Auf manchen wird zusätzlich an Menschen, Verwandte vielleicht, erinnert, die unter den Nazis starben und möglicherweise kein Grab haben - in Polen, Auschwitz oder Riga.

Am Grab des 88-Jährigen angekommen, lassen Helfer den Sarg in die Erde hinab. Trauergäste werfen Erde in die Grube und legen Blumen ab. Ein Mitglied der Chevre Kaddischa spricht den Kaddisch, die Gruppe dreht sich dafür in Richtung Jerusalem. Für die Worte am Grab wird ein Mikrofon genutzt - die Straße nebenan lärmt. Am Ende bleiben der Rabbiner, der Kantor und andere Helfer, greifen sich - teils noch im feinen Zwirn - Spaten und schaufeln die restliche Erde in das Grab. Die Trauergäste gehen langsam zurück.

Für Friedhofsverwalter Lemberg geht es dagegen zügig weiter. Morgens hat er bereits eine feierliche Grabsteinenthüllung begleitet - erst ein Jahr nach einem jüdischen Begräbnis wird der Stein gesetzt -, und mittags dann die Beerdigung. Danach folgt an diesem Tag eine zweite, für eine 82 Jahre alte Frau. Nach dem sprunghaften Wachstum der Kölner Synagogen-Gemeinde wegen des Zuzugs russischsprachiger Juden aus der früheren Sowjetunion in den 1990er Jahren habe sich die Entwicklung nun leider umgekehrt, sagt Lemberg. Derzeit ist die Gemeinde im Rheinland mit rund 3.970 Mitgliedern eine der größeren bundesweit.

kna