Fachtag zum Thema sexualisierte Gewalt
Auf der Suche nach neuen Wegen
Die Fälle sexualisierter Gewalt erschüttern die Menschen – natürlich auch die pastoralen Mitarbeiter in den Gemeinden. Bei einem Fachtag in Lingen haben sie darüber gesprochen – immer mit dem Blick nach vorne.
So eine lange Schlange gibt es selten vor dem Ludwig-Windthorst-Haus (LWH) in Lingen. 350 Pastoral und Gemeindereferenten, Diakone und Priester sind zu diesem Fachtag gekommen –weil das Thema Missbrauch sie zutiefst berührt, weil es an ihrem beruflichen Selbstverständnis und an ihrer Haltung zu dieser Kirche kratzt und weil sie sich fragen, wie es jetzt weitergehen soll. Noch nie gab es eine solche Tagung im LWH, sagt Akademiedirektor Michael Reitemeyer, Moderatorin Martina Kreidler-Kos spricht gar von einem „Meilenstein“. Bischof Franz-Josef Bode bekräftigt das ausdrücklich.
Zwei Vorträge hören die Teilnehmer in der voll besetzten Aula. Der erste ist reich an deutlichen Worten, die die Zuhörer mit viel Beifall aufnehmen. Sie kommen von Hans Zollner, Leiter des päpstlichen Kinderschutzzentrums. Schonungslos skizziert der Jesuitenpater, wo und wie sexualisierte Gewalt in der Kirche vertuscht und verleugnet wurde. Zollner spricht von „Schockwellen“ und von dem System Kirche, „das als Ganzes auf dem Prüfstand steht“ – und von dem Eindruck vieler Menschen, dass die Kirchenführungen es trotzdem „einfach nicht kapieren“. Er vermisst glaubhafte und von Herzen kommende Äußerungen zu dem Thema. Und fragt, was die Kirche außer Eucharistie und Glaubensbekenntnis „eigentlich noch zusammenhält“.
Jesuitenpater: Wirklich zur Rechenschaft ziehen
Zollner wirft einen Begriff in die Diskussion, der viele Zuhörer aufmerken lässt: Rechenschaftspflicht. Wer kann heute einen Bischof oder einen Priester wirklich zur Rechenschaft ziehen? Er macht sich stark dafür, fordert auch schärfere Gesetze, Kontrolle von außerhalb und mahnt an, mehr auf die Betroffenen zuzugehen. „Zuhören mit offenem Geist, Ohr und Herzen ist der Schlüssel. Wer einmal einer betroffenen Person zugehört hat, kann nicht bleiben wie vorher.“
Das macht der zweite Vortrag an diesem Tag deutlich – in einer Weise, die jedes kleinste Räuspern verstummen lässt und manchen Gast zu Tränen rührt. Kerstin Claus steht am Rednerpult, sie arbeitet im Betroffenenrat für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs mit. Die Journalistin erzählt, wie sie als Jugendliche sexualisierte Gewalt durch einen evangelischen Pfarrer erlebt hat – und wie „unsäglich“ der Umgang der Landeskirche damit war. „Keiner hat mich je gefragt, wie es mir geht und was ich brauche.“
Sie spricht sehr offen, wirkt dabei stark und reflektiert – doch jeder im Saal spürt, dass der Missbrauch von damals sie bis heute nicht loslässt. Kerstin Claus erklärt auch, warum sie so lange darüber nicht reden konnte: Weil es so viel Kraft kostet. Weil sie Angst vor den Reaktionen ihrer Freunde, Kollegen, der Gesellschaft hatte. Und weil sie nicht nur noch als „Opfer“ gesehen werden will.
Claus schreibt den pastoralen Mitarbeitern auch ganz konkrete Vorschläge auf den Merkzettel. Zum Beispiel Schutzräume für Betroffene außerhalb der Kirche, ausdrücklich aber externe und professionelle Ansprechpartner für Betroffene innerhalb der Kirche. „Wer schneller davon sprechen kann, wird nicht von der Vergangenheit erschlagen“, sagt sie. Und sie rät eindringlich dazu, Betroffene als Experten in die Aufarbeitung einzubinden. „Die können ihnen erzählen, wie Täter ihre Opfer an sich ziehen.“
Bischof Bode notiert sich die vielen Vorschläge
Das ist viel Stoff für die Hauptamtlichen. In kleinen Gesprächsgruppen tauschen sie sich über ihre Gefühle aus und wie schwer es in diesen Tagen ist, echte Osterfreude zu empfinden. Aber schnell wird deutlich, dass sie nicht in der Ohnmacht stecken bleiben, sondern nach neuen Wegen suchen wollen, um die Kirche an diesem Scheideweg wirklich zu verändern.
Die Ideen und Forderungen in kleiner und großer Runde prasseln nur so. Es geht um „Oasenräume“ für Menschen, die unter der Kirche leiden. Es geht um zeitlich begrenzte (Leitungs-)Ämter und eine andere Sexualmoral – es geht um mehr Fortbildung durch Experten von außen und Rechenschaftspflicht für Verantwortliche, auch um Qualitätssicherung, größere multiprofessionelle Teams und „mehr Zeit für unsere Arbeit“. Bischof Bode schreibt eifrig mit, findet viele Ideen sehr gut. Und gibt selbst die Richtung des Weges vor, auf dem sich die Kirche wandeln muss, um den „Zeichen der Zeit zu entsprechen“. „Dienste, Macht und Vollmacht, Sexualmoral, Lebensformen – das sind die Themen, die wir behandeln müssen. Und da wird auch der Dialog mit Rom notwendig werden.“
Petra Diek-Münchow