Jugendstrafanstalt Berlin

Ausharren im Ungewissen

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Nächste Woche beginnt der Advent, eine Zeit freudigen Wartens. In der Jugendstrafanstalt Berlin begleitet Diakon Thomas Marin junge Männer, für die Warten dauerhaft Lebensinhalt ist. Worauf warten sie eigentlich?

Ein sehnsüchtiger Blick ins Freie: ein Gefangener in der Jugendstrafanstalt Berlin. Das Höchststrafmaß für Jugendliche liegt bei 15 Jahren.    Foto: imago images/Charles Yunck

 

Bis zu 240 Jugendliche verbüßen im Berliner Jugendgefängnis ihre Haftstrafe. Sie warten auf den Tag ihrer Entlassung, auf Lockerungen der Haftbedingungen, manche warten auf Post, auf Besuch, auf die Möglichkeit, ihren Schulabschluss zu machen. Diejenigen, die noch in Untersuchungshaft sind, warten auf ihre Anklageschrift, später dann auf die Gerichtsverhandlung, auf ein möglichst mildes Urteil. Auch der Seelsorger lässt zuweilen auf sich warten, muss Thomas Marin zugeben. Für den geistlichen Beistand in der Anstalt sind er mit einer halben Stelle und seine evangelische Kollegin allein zuständig.  
Besonders zermürbend ist das Warten in der Untersuchungshaft, wenn der Richter Kontaktbeschränkungen wie Telefonverbot oder kontrollierten Briefverkehr durch die Staatsanwaltschaft auferlegt hat, hat der Diakon schon oft miterlebt. „Hält meine Freundin weiterhin zu mir?“ Solche quälenden Fragen bleiben dann für junge Männer häufig über Wochen im Ungewissen. Wenn sie Glück haben, kommt ihr Brief nach zwei Wochen bei der Freundin an. Vier Wochen müssen sie also auf Antwort warten, und manchmal ist die dann so nebulös, dass sie dringend sofort nachhaken möchten.

Monate ohne Umarmung vom eigenen Kind
Eine große Belastung brachten den Gefangenen auch die corona- bedingten Kontakteinschränkungen. Eine Zeitlang war gar kein Besuch möglich, später durfte – getrennt durch eine Scheibe – nur ein einzelner Besucher kommen. Gerade für die jungen Väter war das hart, wenn sie ihre kleinen Kinder über Monate hinweg nicht in den Arm nehmen durften. Skype-Konferenzen waren dafür ein dürftiger Ersatz. Ein Gefangener musste auf den Besuch seiner krebskranken Oma verzichten, die den Weg ins Gefängnis ohne Begleitung nicht schaffte.
Thomas Marin hat keinen Einfluss auf die Entscheidungen von Haftrichtern. Beschleunigen kann er also nichts. Die Möglichkeit zu vertraulichen Gesprächen kann das Warten erträglicher machen, hört er von den Gefangenen, jedenfalls für eine kurze Zeit. Unter Mitgefangenen rede man zumeist nicht gern offen über Persönliches, Gefängnisbediensteten gegenüber noch weniger. „Unsere Schweigepflicht schafft einen geschützten Raum, darin liegt eine besondere Chance“, ist der Diakon überzeugt.

Was in der Wartezeit entlastend wirkt
Um Religion und um ausdrückliche Fragen nach Lebenssinn geht es in den Gesprächen ganz selten. Die wenigsten sind gläubig, selbst unter den Muslimen ist Religion eher eine kulturelle Instanz. Auch Reue ist längst nicht von jedem zu erwarten. Gerade unter denen, die sehr schwere Straftaten begangen haben, sind Persönlichkeitsstörungen weit verbreitet, die Fähigkeit zum Mitgefühl und zur Einsicht der eigenen Schuld ist bei ihnen oft eingeschränkt.
Für die Gefangenen ist es wichtig, beim Seelsorger ihre Sorgen aussprechen zu dürfen. Sie schätzen ihn als jemanden, der ihnen zur Seite steht, der auch ihre kleinen Schritte der Besserung wahrnimmt und würdigt und der ihnen Rat gibt, ohne dabei eigene Interessen zu verfolgen.
Die Zeit des Wartens gut zu füllen, ist ein Rat, den er allen Gefangenen gibt, auch im Hinblick auf ihr Leben nach der Haft. Manche möchten möglichst schnell in den Erwachsenenvollzug verlegt werden, weil sie dort mehr Ruhe haben. Angebote, die ihnen für ihre Weiterentwicklung dienlich sind, bekommen sie aber viel eher im Jugendgefängnis, hält er ihnen dann vor Augen.

Thomas Marin bei der Vorstellung eines Schreibprojektes.    Foto: Archiv TAG DES HERRN


Nicht nur Schulabschluss und Berufsausbildung können die Jugendlichen hinter Gittern absolvieren, auch Angebote wie Anti-Agressionstraining gibt es. Thomas Marin selbst hat verschiedentlich Schreibprojekte angeboten, um neue Talente hervorzulocken und Erfolgserlebnisse zu ermöglichen.
Auch die wöchentlichen Gottesdienste – im Wechsel katholisch und evangelisch – sind für bis zu 30 Teilnehmer eine willkommene Möglichkeit, die Wartezeit zu füllen. Darüber hinaus, nimmt Thomas Marin wahr, erschließt die Gottesdienst-Atmosphäre vielen von ihnen in ihrem Leben eine bis dahin unbekannte Dimension.

Weitere Denkanstöße zum Thema „Warten“ finden Sie in unserem adventlichen Journal.

Von Dorothee Wanzek