Das Gebet in der Kunst
Beten schafft Ordnung
Jeder Tag besteht aus vielen Bruckstücken, sagt Alexander Ginsburg. Das Gebet kann helfen, das Dunkle und das Helle zu ordnen. Sehen kann man das in einem der Bilder des jüdischen Malers. Es heißt: Abendgebet.
Von Susanne Haverkamp
„Die Sowjetunion war nirgendwo erfolgreich“, sagt Alexander Ginsburg, „außer in Sachen Propaganda. Sie hat gut vermittelt, dass es Gott nicht gibt.“ Der 62-Jährige weiß, wovon er spricht. Er ist im lettischen Riga aufgewachsen, damals Teil der Sowjetunion. „Geboren bin ich aber in Magdeburg“, erzählt er. Sein Vater war als Militärjournalist in die DDR geschickt worden, um von dort für eine Soldatenzeitung zu berichten. „Natürlich nur, wie gut es den Soldaten geht und was sie für eine tolle Friedensarbeit leisten“, sagt Ginsburg ironisch. An diese Zeit erinnern kann er sich nicht. „Als ich zwei Jahre alt war, sind wir nach Riga zurückgegangen.“
Was Ginsburg damals kaum bewusst war: dass er Jude ist. „Glaube war damals überhaupt kein Thema“, sagt er. „Wer irgendetwas glaubte, egal ob Jude oder Christ, hatte Nachteile.“ Gebetet oder jüdische Feste gefeiert hat seine Familie deshalb nicht. „Über jüdische Feste habe ich zuerst von einer christlichen Nachbarin erfahren“, sagt Ginsburg. „Sie hat mir erzählt, was Pessah oder Chanukka ist.“
In Lettland hat Ginsburg Kunst studiert, doch er musste sich an die sowjetische Auffassung von Kunst anpassen. Und da auch nach der politischen Wende die Situation nicht einfacher wurde, emigrierte er 1991 mit seiner Familie nach Deutschland. „Wir sind als jüdische Kontingentflüchtlinge gekommen, obwohl wir gar nicht viel jüdischen Glauben hatten“, sagt er ehrlich.
„Einmal gekommen, immer geblieben“
Die Familie landete in Osnabrück – und als Kontingentflüchtlinge mussten sie sich bei der dortigen jüdischen Gemeinde melden. „Viele haben das nur pro forma gemacht“, sagt Alexander Ginsburg, „aber für mich war das ein einschneidendes Erlebnis.“ Besonders die Begegnung mit dem damaligen Rabbiner Marc Stern hat sein Leben geprägt. „Er war ein sehr netter Mensch, sehr charismatisch“, sagt Ginsburg. „Wir sind einmal gekommen – und immer geblieben.“
Dabei war die Gemeinschaft in der jüdischen Gemeinde zunächst wichtiger als der Glaube. „Ich wusste gar nicht, wie man betet“, sagt Ginsburg. „Die Kippa zu tragen und all das – es ist fast peinlich, dass wir so vieles nicht gekonnt haben.“ Doch es war seltsam: Auch Glauben kann man lernen. „Marc Stern hat sich viel um die Kinder gekümmert – und wir haben mit ihnen mitgelernt.“
Heute ist Alexander Ginsburg im Vorstand der jüdischen Gemeinde Osnabrück und beten ist für ihn ein Teil seines Alltags. „Wir beten dreimal am Tag, morgens, mittags und abends“, sagt er. Das gehöre für Juden genauso dazu wie Geld zu spenden und Gutes zu tun. „Jude sein heißt: Du musst was machen, nicht nur irgendwie an ein höheres Wesen glauben.“
Auch seine Kunst sieht nun anders aus, er malt viele biblische und religiöse Motive. Die Menora zum Beispiel, Jerusalem oder die Taube mit dem Ölzweig. Typisch für ihn: Seine Bilder sehen aus wie Mosaike, zusammengesetzt aus vielen kleinen geometrischen Farbschnipseln, denn so sei das Leben. „Es ist zusammengesetzt aus Hell und Dunkel, Wärme und Kälte“, sagt er.
Dass viele Einzelteile zusammenkommen und daraus mehr entsteht, erlebt er auch im Gebet. „Im Judentum gibt es die Tradition, dass mindestens zehn Männer zusammenbeten“, sagt er. „Wir tragen alle etwas zu dem Gebet bei. Und dann kommt noch etwas von oben hinzu.“
Dass jeder Tag aus vielen kleinen Teilen, aus ganz verschiedenen Momenten besteht, das erkennt man auch oben in seinem Bild „Abendgebet“ . Es ist ein Symbol für die Erlebnisse eines langen Tages, die man vor Gott trägt. „Alles sind Bruchstücke, ein bisschen Chaos, ein bisschen Tohuwabohu, wie es in der Bibel heißt. Und das Gebet bringt darin eine gewisse Ordnung“, sagt Ginsburg.
Ein schöner Gedanke: dass das Gebet Ordnung ins Chaos des Lebens bringen kann. Dass es das Durcheinander des Tages strukturieren kann. Dass es im Hin und Her der Gefühle und Erfahrungen Orientierung schafft. Das Abendgebet von Alexander Ginsburg: fast ein Meditationsbild.