Bistum Erfurt richtet Kommission zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ein

Betroffene zur Mitarbeit gesucht

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Das Bistum Erfurt richtet eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ein. Die Zahl der bekanntgewordenen Missbrauchsfälle ist seit 2018 im Bistum deutlich angestiegen.

Bischof Neymeyr bittet Betroffene von sexuellem Missbrauch im Bistum Erfurt um Mitarbeit in einer unabhängigen Kommission, die diese Fälle in seinem Bistum untersuchen soll.    Foto: Dominik Wolf/kna

 

Auch im Bistum Erfurt sollen Fälle sexualisierter Gewalt durch Priester und kirchliche Mitarbeiter von einer unabhängigen Kommission untersucht werden. Das kündigte Bischof Ulrich Neymeyr jetzt vor Journalisten an. Die fünfköpfige Kommission soll Hinweisen zu Missbrauchsfällen nachgehen und den Umgang mit den bekanntgewordenen Missbrauchsfällen durch die zuständigen Mitarbeiter des Bistums und die Bistumsleitung prüfen.

Zahl der bekannten Fälle seit 2018 fast verdoppelt
Die Bistumsleitung gab außerdem bekannt, dass sich die Zahl der Missbrauchsfälle deutlich erhöht hat. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der sogenannten MHG-Studie 2018 gab es 22 Beschuldigte und 30 Betroffene. Diese Studie hatte die Situation für alle deutschen Bistümer untersucht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat die Bistumsleitung Kenntnis von 41 Beschuldigten und 54 Betroffenen. Bei den Beschuldigten handelt es sich um 20 Kleriker und 21 Nichtkleriker. Damit hat sich die Zahl der bekanntgewordenen Fälle sexualisierter Gewalt im Bistum Erfurt nahezu verdoppelt. Die Veröffentlichung der MHG-Studie habe dazu geführt, dass sich zahlreiche weitere Betroffene gemeldet hätten, so Bischof Neymeyr.
Nach Auskunft von Generalvikar Raimund Beck haben sich die meisten Fälle zu DDR-Zeit bis in die 1980er Jahre ereignet. Eine Schwierigkeit für diese Fälle bestehe darin, dass es nur eine sehr spärliche Aktenlage gebe. Auch sei ihm kein einziger Fall bekannt, bei dem zu DDR-Zeiten mit den staatlichen Organen zusammengearbeitet worden wäre, so der Generalvikar. Die Verantwortlichen vermieden das aus Furcht, das Ministerium für Staatssicherheit könnte entsprechende Erkenntnisse für Erpressungen und andere Maßnahmen verwenden.
Bei Missbrauchsfällen in jüngerer Vergangenheit werden die staatlichen Behörden eingeschaltet und entsprechende kirchliche Verfahren durchgeführt. Der jüngste Missbrauchsfall stamme aus dem Jahr 2014. Nach Angaben des Bischofs laufe hier ein staatliches Ermittlungsverfahren gegen einen pensionierten Priester. In einem zweiten aktuellen Fall habe die Staatsanwaltschaft die Verjährung festgestellt. Gegen den Kleriker im Ruhestand habe dennoch ein kirchliches Verfahren stattgefunden, das für den Beschuldigten mit dem Verbot endete, öffentliche Gottesdienste zu feiern, sagte der Generalvikar.
Mit der Einsetzung der unabhängigen Kommission setzt das Bistum Erfurt einen wesentlichen Teil der gemeinsamen Erklärung des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, und der Deutschen Bischofskonferenz um – wenn auch mit kleinen Modifikationen, die der „Kleinheit des Bistums Erfurt“ geschuldet seien, so Bischof Neymeyr. So habe die Kommission nicht – wie vorgesehen – sieben, sondern nur fünf Mitglieder. Das Bistum habe den Unabhängigen Beauftragten über die Veränderungen informiert, aber keine Reaktion erhalten.
Für die Besetzung der Kommission hat das Bistum die Thüringer Kinderschutz-Beauftragte Julia Heesen gebeten, zwei Vorschläge aus den Bereichen Justiz und Wissenschaft zu machen. Das Bistum wird zwei Mitarbeiter aus den Bereichen Recht und Archiv benennen. Der fünfte Platz ist für einen Betroffenen vorgesehen. Der Bischof appellierte in diesem Zusammenhang an die Opfer von sexuellem Missbrauch, das Bistum davon in Kenntnis zu setzen. Er hoffe, dass sich ein Opfer zur Mitarbeit in der Kommission bereit erkläre. Die Arbeit der Kommission soll vor der Sommerpause beginnen und innerhalb von fünf Jahren abgeschlossen sein. Auf die Errichtung eines Betroffenenbeirates habe man aufgrund der im bundesweiten Vergleich wiederum geringen Zahlen erst einmal verzichtet, weil man befürchte, dass sich dafür nicht genügend Betroffene melden.
Die Bistumsleitung informierte auch darüber, dass bisher 106 000 Euro Anerkennungsleistungen gezahlt wurden. Da Betroffene seit Anfang diesen Jahres ihre Fälle neu bewerten lassen können – wovon im Bistum Erfurt bisher neun Gebrauch gemacht haben – rechne man mit einer Erhöhung dieser Summe.

Von Matthias Holluba