Waltraud Dahm hat entschieden, die Organe ihres Sohnes zu spenden.
„Dadurch lebt ein Teil von ihm weiter“
Nur 19 Jahre alt ist Jannik Dahm geworden. Ein Unfall reißt ihn früh aus dem Leben. Die Familie entscheidet, seine Organe an schwerkranke Menschen zu spenden. Dieser Schritt gibt seiner Mutter Waltraud trotz ihrer tiefen Trauer Trost.
„Das ist unser Jannik“, sagt Waltraud Dahm und zeigt ein Foto von ihrem Sohn. Jannik steht vor einem Trecker, schaut mit wachem Blick und einem Lächeln in die Kamera. Die Aufnahme ist in seiner Firma entstanden, einen Tag vor seinem tödlichen Verkehrsunfall im Oktober 2020. Ein Bild von ihm auf einem Traktor ziert auch die große Kerze, die seine Mutter seit der Sechs-Wochen-Messe jeden Tag anzündet. „So kannten ihn die Leute hier in Freren, wenn er durch das Dorf gefahren ist und jeden gegrüßt hat.“ Die Erinnerung zerreißt Waltraud Dahm das Herz – und das Wissen, dass nichts mehr so sein wird wie vorher. „Wir hatten ein Leben vor dem Unglück und haben eins danach“, sagt sie auch für ihren Ehemann und ihre Tochter. Aber ein Gedanke tröstet die Familie etwas. Dass fünf Menschen weiterleben können, weil Jannik seine Organe gespendet hat. Und deshalb haben die Dahms diese „wirklich harte Entscheidung“ nie bereut.
"Damit er für uns alle im Gedächtnis bleibt"
Weiterleben – das hätte Jannik Dahm gern gewollt. Mit einem schmerzlichen Lächeln erzählt seine Mutter von ihm und blättert in Fotobüchern, die seine Freunde und Feuerwehrkameraden für die Familie angefertigt haben. „Damit er für alle so im Gedächtnis bleibt, wie er war.“ Ein freundlicher, hilfsbereiter junger Mann. Der sich in der Feuerwehr, bei der Katholischen Landjugend und den Messdienern engagierte. Der es liebte, mit seinem Opa und Onkel an alten Treckern herumzuschrauben. Der immer schon Landmaschinenmechatroniker werden wollte. „Dieses Jahr hätte er seine Prüfung gemacht“, sagt Waltraud Dahm. Der für seine Familie und Freunde Stehtische und Feuertonnen konstruierte. „Hier im Haus und im Garten sind so viele Sachen, die er gebaut hat.“ Und Jannik hatte viele Freunde, eine große Clique. „Wie sie und die Feuerwehrleute zu ihm gestanden und alles für uns gemacht haben, rührt mich noch immer an“, erzählt seine Mutter. Er liebte das Leben, war verliebt, hatte Pläne für seine Zukunft, wollte nach der Ausbildung in seinem Heimatort und zu Hause bleiben.
Bis zu jenem Donnerstag vor eineinhalb Jahren. „Ich sehe ihn noch vor mir, wie er morgens aus der Tür geht“, sagt Waltraud Dahm. Jannik macht sich auf den Weg zur Berufsschule. Nur zehn Minuten später geht der Pieper seines Vaters los, ebenfalls Feuerwehrmann, und ruft die Wehr zu einem Verkehrsunfall. Die Mutter schreibt den Sohn über WhatsApp an, „aber es kam kein blauer Haken“. Sie wird unruhig, setzt sich ins Auto, ruft ihren Mann und ihre Tochter an, kommt an der abgesperrten Straße nicht weiter, fährt nach Hause zurück. Und muss kurz danach zwei Polizeibeamten und der Notfallseelsorgerin die Tür aufmachen.
Die evangelische Pastorin begleitet Waltraud Dahm ins Meppener Krankenhaus, in das ihr Sohn mit dem Rettungshubschrauber eingeliefert worden ist. Was in der Klinik passiert, läuft heute wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. Das lange Warten: auf dem Flur wegen der Corona-Regeln. Die Ärzte: „drei große Männer im weißen Kittel“, die ihr direkt ins Gesicht sagen, dass Jannik hirntot ist. Ihr Sohn: im Bett auf der Intensivstation, äußerlich fast unversehrt und nur mit einem Kratzer auf der Wange. Aber sein schweres Schädel-Hirn-Trauma lässt keine Hoffnung mehr zu. „Ich war wie erstarrt und habe das erst gar nicht begriffen.“
Und so wehrt sie sich zuerst gegen den Hinweis der Mediziner auf eine mögliche Organspende. „Er lag doch noch da, ich konnte ihn berühren und seine Hand nehmen.“ Die Familie nimmt sich Zeit für diesen Schritt. Zu dritt sitzen sie die ganze Nacht an Janniks Bett, gehen in die Krankenhauskapelle und beten, überlegen und fällen am Ende gemeinsam eine Entscheidung, von der sie glauben, dass sie in Janniks Sinne gewesen wäre: seine inneren Organe an Menschen zu spenden, die sonst nicht mehr lange zu leben hätten. „Er würde sagen, das war richtig so.“
Waltraud Dahm verschweigt nicht, dass der Moment, als ihr Sohn für den Eingriff aus dem Zimmer geschoben wird, „der schlimmste in meinem Leben war“. Denn sie selbst, sein Vater und seine Schwester müssen sich an der Tür von ihm verabschieden und können nicht mehr bei seinem letzten Atemzug an seiner Seite sein. Aber zugleich lobt sie die gründliche Aufklärung durch die Ärztin der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) und die Arbeit der Krankenschwestern. „Jannik wurde sehr würdevoll behandelt, eine Pflegerin war nur für ihn und uns da.“
Nach der Operation erfährt die Familie, dass die Transplantationen gut verlaufen sind. Janniks Herz, die Lunge, die Leber und seine zwei Nieren sind fünf Männern und Frauen eingepflanzt worden. Alle Patienten und Patientinnen waren schon lange krank, standen auf der Dringlichkeitsliste für eine Organspende und lagen zum Teil in schlechtem Zustand in verschiedenen deutschen Krankenhäusern. „Jannik hat ihnen das Leben gerettet“, sagt Waltraud Dahm und zitiert einen der beteiligten Ärzte.
"Ich werde so sehr aufpassen auf unser Herz"
Und das wird der Familie richtig klar, als sie einige Zeit später Post von zwei Frauen erhält, die Janniks Organe bekommen haben. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) macht diesen Austausch ohne Namen und persönliche Details möglich. Die DSO betreut die Familie auch weiterhin, organisiert neben dem Briefkontakt auch jährliche Angehörigentreffen. Besonders das Schreiben der Herzempfängerin bestätigt die Frerener darin, dass ihr Entschluss richtig gewesen ist. Waltraud Dahm holt den Brief aus einer Mappe: drei Seiten lang, eng beschrieben von Hand. Darin berichtet die 28-Jährige von ihrem Herzfehler, der sie von Kind an belastet und immer wieder ins Krankenhaus gebracht hat. Zuletzt drohten sogar andere Organe zu versagen, sie hätte das Weihnachtsfest 2020 vermutlich nicht mehr erlebt.
Große Dankbarkeit und Demut spricht aus diesem Papier. „Ich wollte nicht, dass jemand für mich sterben muss“, schreibt die junge Frau, sieht ihren Spender als Helden und verspricht, „dass ich so sehr aufpassen werde auf unser Herz.“ Und sie freut sich, dass sie nun vielleicht sogar Kinder bekommen darf, was ihr zuvor wegen der Krankheit verwehrt gewesen war. Waltraud Dahm muss bei diesen Zeilen ein wenig schlucken, weil sie sich das natürlich auch für ihren Sohn gewünscht hätte. Aber zugleich hat seine Organspende eine Tür in die Zukunft aufgestoßen. „Ich habe das Gefühl, dass dadurch ein Teil von Jannik weiterlebt.“
Mit diesen Erfahrungen macht sich die ganze Familie Dahm heute stark für das Thema Organspende. „Wir haben jetzt alle einen Ausweis in der Tasche“, sagt die Emsländerin. Kürzlich hat sie an einer Schule angehenden Krankenpflegerinnen und -pflegern von Jannik und der Organspende erzählt. „Erst war absolute Stille in der Klasse und dann gingen die Fragen los.“ Waltraud Dahm kann sich gut vorstellen, solche Vorträge auch noch vor anderen jungen Menschen oder Gemeindegruppen zu halten. „Es ist mir einfach wichtig, dass in den Familien darüber gesprochen wird – dass sich die Menschen informieren und wissen, was zu tun ist.“ Wie immer sie dann am Ende auch entscheiden.
Petra Diek-Münchow
Mehr Infos zum Thema Organspende im Internet: www.dso.de