Karfreitagsprozession in Groß-Gerau
„Das ist kein Schauspiel“

Foto: Karin Weber
Die Abendmahlszene bei den diesjährigen Proben für die Via Crucis am Karfreitag diesmal im Schloss Dornberg
„Halte dich an meinen Beinen fest, wenn du mich ansiehst“, sagt Christian Dalla Libera zu Letizia Carratta. Die Frau mimt „La Donna Adultera“, die von Pharisäern angeklagte Ehebrecherin. Mehrfach wiederholen beide die Szene, die zur ersten Station der „Via Crucis“ gehört. Jesus-Darsteller Christian Dalla Libera ist auch Regisseur und leitet die Probe. Ihm ist die Mimik besonders wichtig. Das Gespielte müsse auch ohne Kostüme authentisch sein, sagt er. Das Karfreitagsgebet sei „kein Schauspiel, sondern eine hingebungsvolle christliche Andacht“. Auch die Szene der Ehebrecherin gehöre dazu. „Wir haben die Via Crucis erweitert, weil wir auch zeigen möchten, was Jesus vor seiner Verurteilung Gutes getan hat“, erklärt er.
Seit mehr als 20 Jahren gehört die Darstellung des Leidenswegs Jesu zur Karfreitagsliturgie der Comunità Cattolica Italiana. 2023 folgten gut 400 Menschen der mehrstündigen Prozession durch die Straßen Groß-Geraus. Doch vor allem für Ältere war der lange Weg zu beschwerlich, sie konnten nicht allen Stationen folgen. Als weitere Herausforderungen nennt der Regisseur den zunehmenden Verkehr und immer ungeduldigere Autofahrer. Im vergangenen Jahr wurde die Karfreitagsprozession daher erstmals neu gedacht und fand nur in der Kirche statt: Familien, Paare und Senioren erzählten zu jeder Station von eigenen Glaubenserfahrungen. Diese „sehr berührende Crucis mit ganz persönlichen Glaubenszeugnissen“ sei jedoch nicht wiederholbar, vermutet er. Das Orga-Team suchte nach einem neuen Ort. Gefunden wurde der Hof des Schlosses Dornberg. „Eine spektakuläre Kulisse. Sie wird genutzt für Kulturveranstaltungen, birgt aber eine intime Gebetsatmosphäre“, sagt Isabella Vergata Petrelli. Die junge Mutter hat in diesem Jahr keine Rolle und ist Regieassistentin.
Wir bewegen uns rund um die Zuschauer.
„Wir haben uns oft im Schlosshof getroffen, um zu schauen, wie alles passt“, sagt sie. Das Ergebnis hat Christian Dalla Libera zeichnerisch zu Papier gebracht. Der IT-Fachmann zeigt auf Skizzen, die die Zuschauerbereiche und verschiedene Kreuzwegstationen markieren: Für bis zu 800 Personen gäbe es Platz. „Wir sind glücklich, wenn es 300 sind“, wirft Isabella Vergata Petrelli ein und erklärt: „Diesmal bewegt sich nicht das Publikum, sondern wir bewegen uns rund um die Zuschauer.“ Somit könne jeder einige der Stationen hautnah erleben.
Alle Akteure sprechen Italienisch, Einleitungen und Fürbitten werden zusätzlich in Deutsch gelesen. Im Choreografiebuch ist alles bis ins Detail festgelegt. Man ahnt, wie viele Stunden Arbeit darin stecken. Dalla Libera weist auf den Torbogen im Hof. Die düstere Atmosphäre des Ortes soll die Kulisse für den Verrat durch Judas bilden. „Wie muss die Stimmung hier sein? Welche Botschaft muss rüberkommen? Welches Lied wird im Hintergrund gespielt? All das ist wichtig“, sagt er. Jede Handlung soll unabhängig von der Sprache verstanden werden. Die 39-jährige Koordinatorin ergänzt: „Wie wir reden, ist letztlich egal. Wenn Gebärden und Gefühle gut dargestellt und transportiert werden, wird eigentlich alles verstanden.“
36 Menschen aus Groß-Gerau und Riedstadt wirken aktiv mit an der Via Crucis. Drei fünfstündige Proben und mehrere Extraproben sind es für die 12- bis 72-jährigen Darsteller, darunter viele Familien. Insgesamt übernehmen etwa 50 Personen der knapp 3000 Gemeindemitglieder Verantwortungen und Aufgaben. „Wir sind eine sehr aktive Gemeinde und stemmen alles ehrenamtlich“, betont Isabella Vergata Petrelli. Beiden Organisatoren ist wichtig, dass jeder seinen Part ernst nimmt. „Wir sind zwar keine Profis, aber anstrengen muss man sich schon – auch aus Respekt vor den anderen“, fordert Christian Dalla Libera.

Zur Prozession tragen die Laiendarsteller historisch anmutende Gewänder. Sie helfen ihnen, in ihre Rolle zu schlüpfen, um sie so authentisch wie möglich auszufüllen. Als Hauptdarsteller ist Christian Dalla Libera seit 2016 dabei und lässt sich gerade den Bart wachsen. An Karfreitag wird er barfuß gehen, nur mit einem Schurz bekleidet. Auch bei Regen. Nach zwei Stunden können Hände und Füße blau gefroren sein, denn schließlich kann es zur Prozession richtig kalt sein.
„Ich trage trotzdem keinen hautfarbenen Schlafanzug“, sagt er und lehnt die vorhandene Requisite ab. „Jesus hat gelitten. Um das zu zeigen, muss auch ich leiden. Das allerdings ist nichts im Vergleich zu dem, was er erlitten hat“, sagt der 42-Jährige. „Ich bin als Gläubiger unterwegs. Nicht um mich zu präsentieren, sondern weil ich an das, was ich darstelle, auch glaube.“ Wenn er das schwere Kreuz schleppe, bewege er die Herzen der Zuschauer und Mitspieler, ergänzt Isabella Vergata Petrelli. „Das wirkt ansteckend. Dann sind auch Maria und alle anderen in ihren Rollen“, betont die studierte Theaterwissenschaftlerin.
Obwohl das Team weiß, welche Rollen benötigt werden, werde es immer schwieriger, Leute zu finden, die sich darauf einlassen. Schließlich gehöre eine Portion Mut dazu, sich eine Robe überzuwerfen und in erster Reihe zu agieren. „Wenn wir meinen“, sagt Regieassistentin Vergata Petrelli, „dass jemand gut in eine Rolle passt, sprechen wir ihn an.“
Wie bei Maria: „Ich war bei den weinenden Frauen, als ich vor sechs Jahren gefragt wurde, ob ich Maria sein möchte“, sagt Patrizia Monaco. Obwohl sie den Jesus-Darsteller gut kenne, sei es anfangs schwierig gewesen. „Maria streichelt ihren Sohn und nimmt ihn in den Arm. Dafür muss ich Nähe zulassen“, sagt die 48-Jährige. Allein durch Mimik müsse ihr Leid fassbar sein. Das bestätigt Regisseur Dalla Libera, der sich seinen Mitspielern zuwendet: „Versetzt euch immer in die Lage der jeweiligen Person und seid überzeugt von dem, was ihr darstellt.“
Karin Weber
Zur Sache
Die Karfreitagsprozession der Katholischen Italienischen Gemeinde Groß-Gerau findet statt am Freitag, 18. April, um 15 Uhr im Schloss Dornberg, Hauptstraße 1, Groß-Gerau. Parkplätze gibt es in der Fasanerie gegenüber.