Der Benediktiner Emmanuel Rotter kümmert sich um Obdachlose in München
"Das sind Menschen wie du und ich"
Seit über 30 Jahren ist der Benediktiner Emmanuel Rotter (55) in der Obdachlosenarbeit von Sankt Bonifaz in München aktiv. Im Interview berichtet er, wie der Orden seinen Gästen hilft und welche Herausforderungen damit verbunden sind. Außerdem verriet der Frater, welchen besonderen Wunsch er zu Weihnachten hätte.
Frater Emmanuel, die katholische Kirche hat ihre diesjährige Adventsaktion unter das Motto #weltretten gestellt. Würden Sie sich in die Kategorie "Weltretter" einordnen?
Das wäre übertrieben. Aber ein klein wenig tragen wir in Sankt Bonifaz schon dazu bei, dass die Welt der Obdachlosen, die zu uns kommen, ein bisschen besser ist.
Wie fanden Sie zu Ihrem Engagement?
Als ich 1990 als Novize bei den Benediktinern in München eingetreten bin, kam ich durch meine Tätigkeit an der Klosterpforte erstmals in Kontakt mit obdachlosen Menschen. Aus meinem oberbayerischen Heimatdorf kannte ich das nicht. Und natürlich hatte ich meine Vorurteile vom Land mitgebracht, nämlich dass diese Leute faul seien, ständig besoffen und stinken. Aber durch die Begegnungen merkte ich, dem ist nicht so. Das sind Menschen wie Du und ich. Die haben eine Nase im Gesicht, zwei Ohren und zwei Augen. Vor allem aber hat jeder sein eigenes Schicksal.
Wie ging es weiter?
Mit meinem Mitbruder Barnabas begann ich damals, über die Klostermauern hinauszuschauen. Die Abtei liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs. Königsplatz und Alter Botanischer Garten sind nicht weit - alles Orte, wo die Leute sich aufhalten. Wir sind zu ihnen hin und wollten wissen, was sie brauchen. Als Antwort kam: mal für ein paar Stunden einen Ort zu haben, wo man sein kann, wie man ist. Auch ein warmes Essen wäre schön, ebenso eine Möglichkeit, sich zu waschen. Wir fragten dann Abt Odilo Lechner, ob wir nicht mehr machen könnten. Schließlich fordert schon unser Ordensgründer, Gäste aufzunehmen, besonders die Armen, da man in ihnen Christus erkenne.
Ist eine solche Arbeit bisweilen nicht belastend?
Sogar sehr. Aber sie gibt auch viel zurück. Wir haben mit Essensausgaben begonnen, dann auch Duschen zur Verfügung gestellt und eine Kleiderkammer eingerichtet. Als mein Mitbruder aus dem Kloster austrat, war ich aber auf einmal allein. Als edler Samariter kommst du auf Dauer nicht weiter. Mir ging alles so nahe, dass ich 1997 einen Nervenzusammenbruch erlitt und drei Monate aussetzen musste. Dazu sei gesagt: An der Pforte hatte ich anfangs vielleicht sechs Obdachlose täglich, aber inzwischen waren es 120. Da hat's keine Flyer gebraucht; die Mundpropaganda reichte.
Zu welcher Lösung kamen Sie?
Meine Überlegung war, warum nicht jene Personen fragen, die zu uns kommen, ob sie mithelfen wollen. Über die Pfarrei und über die 1994 gegründete Straßenzeitung "Biss", deren Mitbegründer ich war und die in Sankt Bonifaz ihre ersten Redaktionsräume bezog - heute hat sie noch ihre Hauptausgabe-Stelle hier -, fanden sich weitere Freiwillige. Heute haben wir ein Team aus 12 Festangestellten und 20 Ehrenamtlichen. Seit 2001 ist im neu erbauten Haneberghaus genügend Platz für die Jugend- und Obdachlosenarbeit. Dort ist alles zusammen: Ausgabeküche und Speisesaal, acht Duschen für Männer, eine für Frauen, eine Kleiderkammer, eine Arztpraxis und eine Sozialberatung.
Wie viele Menschen kommen aktuell zu Ihnen?
Vor der Pandemiezeit waren es täglich rund 250, jetzt sind es 350, der Großteil Männer. Der Ukrainekrieg hat uns zudem mehr Frauen mit Kindern beschert, für die die klassische Obdachlosenhilfe eigentlich nicht vorgesehen ist. Sie wollen meist nur etwas essen. Eine völlig andere, zwar nicht ganz neue Gästegruppe sind Rentnerinnen und Rentner, die Suppe oder einen Eintopf mitnehmen, damit sie abends was Warmes haben. In Zeiten hoher Energiekosten duschen viele bei uns, um weiter ihre Wohnung bezahlen zu können. Sogar einige Studenten.
Hatten Sie Momente, wo Ihnen bestimmte Gäste eine Überwindung kosteten?
Das passiert, wenn Sie etwa einen Menschen vor sich haben, der völlig verdreckt ist und bei dem noch Maden aus den Wunden der Beine laufen. So jemanden dazu zu bringen, dass er sich duscht, ist eine Überwindung. Ich habe auch schon Leute weggeschickt. Wir haben eine kleine Hausordnung, da sollte man sich an die Regeln halten. Alkohol ist verboten. Wenn jemand mehrmals seine Wodka-Flasche dennoch ansetzt, gibt es Ermahnungen, unter Umständen befristetes Hausverbot. Was gar nicht geht: Wenn jemand unsere Mitarbeiter angreift.
Wie sind Ihre Öffnungszeiten?
Wir sind die einzige Stelle in München, die von Montag bis Freitag ab 7.00 Uhr offen hat. Wer auf der Straße schläft, ist früh unterwegs. Die Leute kriegen bis 13.00 Uhr bei uns Kaffee, Tee, Brot und Semmeln. Es gibt auch ab 7.00 Uhr in der Früh einen warmen Eintopf, einen mit Fleisch, einen ohne, weil wir auch Vegetarier haben, Gäste muslimischen Glaubens. Für viele ist dies die einzige warme Mahlzeit am Tag. Obst und Süßigkeiten halten wir ebenfalls bereit. Auch Kaltgetränke, gespendet von Adelholzen. Am Wochenende ist zu.
Ist das Zuhören ein Teil Ihrer Arbeit?
Ich habe gelernt, dass viele Leute einfach in Ruhe gelassen werden wollen. Das war anfangs frustrierend. Wer frisch kommt, hockt sich in der Regel hin, isst erst einmal und schaut dann, was los ist. Manche möchten bewusst anonym bleiben. Aber in der Arztpraxis wird viel geredet. Reichlich Smalltalk gibt's über den Tresen hinweg.
Angesichts der vielen Schicksale, mit denen Sie konfrontiert werden, welchen Weihnachtswunsch hätten Sie?
Gegenüber Arbeitslosen mag dies wie ein Affront klingen. Aber ich würde mir wünschen, endlich arbeitslos zu werden. Damit wäre dann wirklich die Welt gerettet; aber soweit sind wir noch nicht.
kna