Jesusbild im Judentum und Christentum

Der jüdische Visionär

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Paulus schwärmt vom Judentum: Herrlichkeit und Verheißung gelten ihm. Er selbst sei Jude und Jesus auch. Das wurde lange vergessen – von Christen wie von Juden. Jetzt will Rabbiner Walter Homolka Jesus heimholen.

Walter Homolka ist Rabbiner, Rektor des Abraham-Geiger-Instituts und Professor an der School of Jewish Theology der Uni Potsdam.
Walter Homolka ist Rabbiner und Professor an der School of Jewish Theology der Uni Potsdam.

Professor Homolka, warum müssen Sie Jesus heimholen? Haben Christen ihn entführt? 

Bestimmt hat das Christentum Jesus von Nazaret seines jüdischen Kontextes entkleidet. Der dogmatische Christus wurde dann zur Quelle von Verfolgung und Unterdrückung, Not und Tod für das Judentum überall da, wo das Christentum die beherrschende Religion gewesen ist. 

Und deshalb haben die Juden Jesus vergessen? 

Ja, denn es ist nur logisch, dass Juden in diesem Christus vor allem die Legitimation für ihre Peiniger und Mörder sahen. Es hat – mit einzelnen Vorläufern – bis ins 18. Jahrhundert gedauert, bis man ihn auch positiv deuten konnte.

Was war an Jesus jüdisch? 

Das beginnt schon bei der Beschneidung. Der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück hat gerade vorgeschlagen, den früheren katholischen Feiertag „Beschneidung des Herrn“ am 1. Januar wieder einzuführen, als Andenken daran, dass Jesus typisch jüdisch war. Oder ich denke an das Lukasevangelium, wo Jesus als Zwölfjähriger im Tempel mitten unter den Schriftgelehrten sitzt, mit ihnen diskutiert, Fragen stellt und alle mit seinem Verständnis in Erstaunen versetzt. 

Aber im Erwachsenenalter hatte Jesus auch Konflikte mit der jüdischen Obrigkeit.

Ja und nein. Nehmen Sie die Auseinandersetzungen über die Heiligung des Schabbat. Jesus lehrt, dass „Not den Schabbat breche“. Er wird im Kontext der Evangelien damit als Widersacher des rabbinischen Judentums stilisiert. In der Tat aber vertritt er gute jüdische Lehre. Es ist zu bemerken, dass die Evangelien Jesus bereits aus dem jüdischen Kontext lösen wollen, um das Einzigartige Jesu herauszuarbeiten. Das hält aber einer exegetischen Betrachtung nicht immer stand, ob sich Jesus nicht eigentlich doch in einer innerjüdischen Bandbreite an Meinungen bewegt.

Kann man Jesus nur verstehen, wenn man ihn als Juden begreift?

Johannes Paul II. hat 1997 ganz prägnant formuliert: „Manche Menschen betrachten die Tatsache, dass Jesus Jude war und dass sein Milieu die jüdische Welt war, als einfachen kulturellen Zufall (…) Aber diese Leute verkennen nicht nur die Heilsgeschichte, sondern noch radikaler: Sie greifen die Wahrheit der Menschwerdung selbst an.“

Gibt es heute im Judentum ein breiteres Interesse an Jesus? 

Natürlich ist das religiöse Tabu nach wie vor wirkmächtig. Aber in meinem Buch bin ich den anderen Spuren nachgegangen. Beispiele sind der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn, der Rabbiner Abraham Geiger, später Rabbiner Leo Baeck bis hin zu Paula Fredriksen und Amy-Jill Levine im 21. Jahrhundert. Das zeigt: Die jüdische Beschäftigung mit Jesus von Nazaret intensiviert sich.  Auch in der Literatur: Ich nenne nur den israelischen Schriftsteller Amos Oz, der in seinem Roman „Judas“ die ganze jüdische Leben-Jesu-Forschung zum Tragen kommen lässt und selbst sagt, wie beeindruckend er Jesus fand: als jüdischen Visionär. Eine Ausstellung im Israel-Museum Jerusalem zeigte 2017 unter dem Titel „Jesus in der israelischen Kunst“ zweihundert Exponate bis hin zu moderner Fotografie. Überall wird Jesus als jüdischer Bruder wahrgenommen, weit entfernt von den Vorbehalten früherer Zeiten.

Wie bewerten Sie es, dass die Christen ihn für sich reklamieren? 

Natürlich ist Jesus von Nazaret zentral für das Christentum in all seinen Konfessionen. Wofür ich plädiere, ist eine Christologie, die über Jesus so spricht, dass sie das Judentum nicht herabwürdigt, für überlebt hält und das Christentum als Erbe eines Bundes einsetzt, den Gott mit dem Volk Israel geschlossen hat. Wie das gehen kann, zeigen viele katholische und evangelische Theologinnen und Theologen, mit denen wir im jüdisch-christlichen Dialog zusammenarbeiten.

Wie sehr reiben Sie sich dabei an der Person Jesu? 

Der jüdische Religionsphilosoph Schalom Ben Chorin hat es auf einen schönen Nenner gebracht: „Der Glaube Jesu eint uns, der Glaube an Jesus trennt uns.“

Gibt es Christen, die Ihre Heimholung Jesu als übergriffig verstehen?

Das kann durchaus sein. Die alte Garde im Vatikan hört das sicher nicht gerne, weil manche sogar am Zweiten Vatikanischen Konzil gerne Hand anlegen würden. Und bei Joseph Ratzinger sehe ich die Tendenz, dem Judentum nach Jesus wenig heilsgeschichtliche Bedeutung mehr zukommen zu lassen. Dies ist mit ein Grund dafür gewesen, warum schon im 19. Jahrhundert Denker wie Rabbiner Abraham Geiger darauf hingewiesen haben, dass der authentische Jesus ein observanter Jude gewesen ist. Das bringt allerdings die in Zugzwang, die sich als Reichssiegelbewahrer von Jesu Denken und dessen Wirkungsgeschichte wähnen: die Kirchen.

Paulus sieht im Römerbrief die enge Verbindung von Judentum und Christentum, später scheint sie verloren gegangen. Ist Ihrer Wahrnehmung nach diese Geschwisterschaft jetzt wieder im Christentum angekommen?

Ja, weil sich seit siebzig Jahren viele Menschen im christlich-jüdischen Dialog engagieren. Aber zur Geschwisterschaft gehört auch, Stolpersteine zu beseitigen. Etwa die Karfreitagsfürbitte Benedikts XVI., wie er sie für den außerordentlichen tridentinischen Ritus 2007 eigenhändig formuliert hat. Sie hat zu einer nachhaltigen Verstimmung auf jüdischer Seite geführt. Außerdem gibt es so gut wie keine Kooperation zwischen Katholiken und Juden, wenn es um die Ausbildung von Geistlichen geht. Hier bemüht sich die Jüdische Theologie in Potsdam um lebendige Zusammenarbeit mit der Katholischen Theologie in Poznàn, Berlin und Sao Paulo. Aber da ist noch Luft nach oben.

Interview: Susanne Haverkamp