Caritas-international-Leiter zur Lage in Venezuela
"Der Staat befindet sich in Auflösung"
Die politische und wirtschaftliche Krise in Venezuela scheint festgefahren. Der Leiter von Caritas international, Oliver Müller, hat das südamerikanische Land besucht. Im Interview berichtet er von katastrophalen Zuständen - ohne viel Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage.
Herr Müller, Sie waren gerade in Venezuela und haben sich ein Bild von der Lage vor Ort gemacht. Welche Eindrücke haben Sie?
Der wichtigste Eindruck ist der eines Staates in Auflösung, der die Grundbedürfnisse seiner Bevölkerung nicht mehr erfüllen kann. Das ist den wirtschaftlichen Umständen geschuldet, die Hyperinflation spielt da eine große Rolle. Schätzungen nennen Inflationsraten von 135.000 bis zu einer Million Prozent. Das hat dazu geführt, dass der monatliche Mindestlohn nur noch 1,70 Euro wert ist. Dafür kann man derzeit etwa zwölf Eier kaufen und das war es dann für den Rest des Monats. Der Großteil der Bevölkerung ist damit beschäftigt, das tägliche Überleben zu sichern. Auch die Leistungsfähigkeit des staatlichen Hilfsprogramms hat enorm nachgelassen. Es ist also kein Wunder, dass mehr als vier Millionen Menschen das Land verlassen haben.
Glauben Sie, dass der Massenexodus aus Venezuela weitergeht?
Das ist schwer zu sagen. Was man beobachten kann, ist, dass sich die humanitäre Situation in den vergangenen Monaten weiter verschärft hat und es keine Hinweise gibt, dass sich die Lage bessert. Das ganze Sozialsystem ist in Auflösung begriffen. Das betrifft den desolaten Zustand zum Beispiel der Krankenhäuser oder des Bildungssystems. Allein in der Hauptstadt Caracas haben die Schüler nur an 60 Tagen im Jahr Unterricht gehabt. Das liegt daran, dass die Lehrer das Land verlassen oder mehrere Jobs angenommen haben, um irgendwie zu überleben. In den Provinzstädten erstirbt das Leben nach 18 Uhr, weil sich die Menschen aus purer Angst bei Dunkelheit nicht mehr auf die Straße trauen. Das alles führt dazu, dass die Menschen das Land verlassen.
Hinzu kommt, dass der venezolanische Staat an normale Venezolaner keine Reisepässe mehr ausgibt und die Armen deshalb gezwungen sind, illegal, also ohne Dokumente, das Land zu verlassen. Im Grenzgebiet zu Kolumbien sind die Verhältnisse katastrophal. Oft werden die Flüchtlinge von paramilitärischen Gruppen überfallen. Inzwischen haben die lateinamerikanischen Länder zudem die Aufnahme der Flüchtlinge gestoppt oder wollen sie stoppen.
Venezuelas Regierung sagt, dass die internationalen Sanktionen für die Krise im Land verantwortlich seien. Wie sehen Sie das?
Die Sanktionen sind nicht der Grund für die jetzige Not. Ursachen sind die Misswirtschaft und die Korruption der Regierung Maduro, die es nicht geschafft hat, in dem Land mit den größten Erdölreserven der Welt eine Wirtschaft aufzubauen, die die Menschen ernähren kann. Venezuela ist inzwischen nur noch in der Lage, 25 Prozent der Lebensmittel, die das Land braucht, selber anzubauen.
Ohne Zweifel haben die Sanktionen die humanitäre Notlage noch einmal verschlechtert und die Verfügbarkeit von Gütern eingeschränkt. Die Situation für die ärmeren Bevölkerungsteile hat sich dadurch nochmals verschlechtert, deshalb sind sie aus humanitären Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. Sie zeigen bislang auch nicht die beabsichtigte politische Wirkung, nämlich das Maduro-Regime in die Knie zu zwingen. Im Gegenteil, sie geben dem Regime die Möglichkeit, die Schuld für alle Mängel auf die Sanktionen zu schieben. Für den Normalbürger ist kaum noch nachprüfbar, ob das stimmt oder nicht.
Der Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet ist voller schwerer Vorwürfe gegen das Maduro-Regime. Es soll außergerichtliche Hinrichtungen geben, Folter und Kontrolle über die Sozialprogramme. Haben Sie ähnliche Beobachtungen gemacht?
Ich habe vor Ort mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen gesprochen und nach diesen Gesprächen deutet für mich nichts daraufhin, dass der Bericht von Frau Bachelet unzutreffend ist.
Caritas und die katholische Kirche versuchen der armen Bevölkerung zu helfen. Was können Sie vor Ort erreichen?
Bislang kann die Caritas trotz des angespannten Verhältnisses der katholischen Kirche zur Maduro-Regierung eigentlich frei arbeiten. Es hat mich auch ein wenig überrascht, welch große Bedeutung die katholische Caritas in diesem Land hat. Das liegt offenbar auch daran, dass Venezuela kein klassisches Entwicklungshilfe-Land war und nicht viele internationale Organisationen vor Ort sind. Ich habe selbst einige Programme besucht. Unter anderem übergeben wir notleidenden Familien eine Geldkarte, die sie mit 15 Dollar wöchentlich aufladen und mit der sie in Geschäften ihres Viertels zumindest Grundnahrungsmittel kaufen können. Wir erreichen damit rund 5.000 Menschen.
kna