Bei Matthäus steht eine Randfigur plötzlich im Mittelpunkt
Der stille Josef
Josef ist in der Bibel eine Randfigur: Kein Wort ist von ihm überliefert, kaum etwas wissen wir über ihn. Einzig der Evangelist Matthäus rückt den Ziehvater Jesu ins rechte Licht: glaubensstark, gerecht und tatkräftig.
Von Kerstin Ostendorf
Josef ist verzweifelt: Maria ist schwanger! Wie konnte sie ihn nur so hintergehen? Er wollte sie doch heiraten und eine Familie mit ihr gründen. Er hatte Pläne für ihre gemeinsame Zukunft geschmiedet: Kinder, ein kleines Haus, ein ruhiges Leben – dafür würde sein Lohn als Zimmermann reichen. Und jetzt das. Josef grübelt: Was soll er tun?
So oder so ähnlich wird es wohl gewesen sein. Aber wer macht sich über Josef schon Gedanken? Die Bibel jedenfalls nicht. Bei den Evangelisten Markus und Johannes wird er gar nicht oder nur kurz erwähnt. Im Lukasevangelium ist er immerhin Teil der Kindheitsgeschichte Jesu. Aber kein einziges Wort ist von ihm überliefert; weder sein Alter noch sein weiteres Leben oder sein Tod spielen im Neuen Testament eine Rolle.
Und doch ist er eine der Schlüsselfiguren in der Heilsgeschichte, wie Matthäus am deutlichsten herausstellt. Denn Matthäus spricht über die Geburt Jesu praktisch gar nicht. Aber er spricht sehr ausführlich über die Rolle, die Josef einnimmt: Er gibt dem Kind den Namen Jesus (Matthäus 1,25); er nimmt ihn an Sohnes statt an, womit Jesus zum „Haus Davids“ gehört (Matthäus 1,16); und er sagt, wo es langgeht – nach Ägypten und zurück.
Josef will das Beste für Maria und das Kind
Wie Noah und Ijob im Alten Testament oder der greise Simeon im Tempel wird Josef als eine von wenigen biblischen Figuren als gerecht beschrieben. Das heißt zunächst: Er befolgt die religiösen Gesetze und will das Gute. Er weiß, dass er Maria verstoßen und sie öffentlich des Ehebruchs beschuldigen könnte – verlobt galt damals so viel wie verheiratet. Über sie könnte gar die Todesstrafe verhängt werden. Aber Josef tut es nicht. Er will das Beste für Maria und das Kind – und entschließt sich, ihr ohne großes Aufsehen den Scheidebrief zu geben.
Und in diesem Moment kommt die zweite wichtige Eigenschaft Josefs ins Spiel: Er hat einen Draht nach oben, er ist offen für das, was Gott ihm sagt. Wie sein Namensvetter Josef, der jüngste Sohn des Erzvaters Jakob, der im Buch Genesis Träume hat und deutet (Genesis 37-50), erfährt auch Josef im Traum, was zu tun ist. Viermal erzählt Matthäus davon. Das erste Mal in dem wichtigen Augenblick der Entscheidung, wie er sich zu Maria verhalten soll.
Im Traum erscheint Josef ein Engel, der ihm sagt, dass Maria ihn nicht betrogen hat. Das Kind ist Gottes Sohn, gezeugt vom Heiligen Geist. Josef soll Maria zur Frau nehmen. Und Josef hört auf den Engel. Vielleicht ist ihm auch ein Stein vom Herzen gefallen: Maria hat ihn nicht betrogen. Er hat sich nicht in ihr getäuscht. Vielleicht gelingt seine Idee von einem gemeinsamen Leben ja doch noch?
Josef erkennt in seinen Träumen Aufträge und Warnungen Gottes
Doch Josefs Entscheidung, zu Maria zu stehen, stellt sein Leben auf den Kopf. Der Evangelist Lukas berichtet, wie Josef und die hochschwangere Maria sich auf den Weg nach Betlehem machen, um sich dort in die Steuerlisten eintragen zu lassen, so wie der römische Kaiser es befohlen hat. Dort wird Jesus geboren – und von Josef kein weiteres Wort.
Auch bei Matthäus hält Josef sich bescheiden im Hintergrund, als die Sterndeuter kommen: Maria und Jesus stehen im Mittelpunkt (Matthäus 2,11).
Aber kurz danach, als es gefährlich wird, träumt Josef erneut. Wieder erscheint ihm ein Engel, der ihm aufträgt, mit Maria und Jesus nach Ägypten zu fliehen. Denn König Herodes fürchtet um seine Macht und will seine Herrschaft verteidigen. Er will Jesus töten. Noch in der Nacht weckt Josef Maria und bricht mit ihr auf. Josef, der Beschützer seiner kleinen Familie.
Josef tut den Traum nicht als einen Albtraum ab. Er erkennt darin die Warnung Gottes. Der Traum ist das Tor zur göttlichen Welt, so wird es oft im Alten Testament beschrieben. Beim Traumdeuter Josef, der Ägypten und die Nachbarländer vor einer Hungersnot bewahrt – und so auch das Volk Israel rettet. Aber auch Jakob hört Gottes Stimme im Traum, die ihm viele Nachkommen verspricht; und noch früher warnte Gott den König Abimelech im Traum vor dem Ehebruch mit Abrahams Frau Sara.
Der beste Vater der Welt
Wenn im Matthäusevangelium Josef von Nazaret träumt, dann geht es um die Sicherheit Jesu: Gott schickt ihm im Schlaf Anweisungen, um Jesus zu beschützen. Und Josef versteht ihn. Auch Jahre später, als Herodes gestorben ist und Josef träumt, dass eine Heimkehr nun möglich ist.
Zuletzt wird Josef im Lukasevangelium erwähnt, als er mit Maria und Jesus zum Paschafest nach Jerusalem geht. Nach den Festtagen machen sich Maria und Josef auf den Heimweg. Der zwölfjährige Jesus bleibt unbemerkt im Tempel zurück. Dort finden seine Eltern ihn und stellen ihn zur Rede. „Warum hast du uns das angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht“, fragt Maria. Jesus antwortet, patzig wie ein Jugendlicher: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ In der Bibel erwidert Josef darauf nichts. Was soll er auch sagen? Vielleicht verletzen ihn die Worte, aber er weiß, dass Jesus Recht hat: Das Haus seines Vaters – das ist für Jesus der Tempel.
Josef scheint in der Bibel nur eine Randfigur zu sein. Er war Gott nützlich, damit Jesus als Kind in einer Familie aufwachsen kann. Wie Josef seine Vaterrolle ausfüllt, bleibt völlig unklar. Aber: Josef beschützt Jesus. Er ist tiefgläubig, tatkräftig und entscheidungsstark. Und zugleich ein Vorbild an Demut und Bescheidenheit. Einen besseren Vater hätte Gott für Jesus nicht aussuchen können.