Gebetsschule

Die Essenz des Glaubens

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Das Vaterunser ist das Grundgebet aller Christen. Es verbindet alle Zeiten und alle Konfessionen und sogar Nichtchristen kennen es. Die Faszination dieses Gebets wird an einem Ort besonders deutlich: in der Pater-Noster-Kirche.

Foto: kna/Corinna kern
Das Vaterunser hängt in vielen verschiedenen Sprachen in der Pater-Noster-Kirche. Foto: kna/Corinna Kern


Am besten kommt man frühmorgens hierhin, bevor der Sommer seine oft brüllende Mittagshitze über Jerusalem gelegt hat und jede Bewegung zu einer schweißtreibenden Angelegenheit macht. Auf dem Ölberg, nur einen Steinwurf vom Garten Getsemani entfernt, hat Jesus nicht nur die letzte Nacht vor seiner Kreuzigung verbracht. Von hier aus soll Christus später auch gen Himmel aufgefahren sein. 

Einer apokryphen Überlieferung zufolge soll er hier zudem seine Weggefährten noch einmal im Gebet unterwiesen haben. Davon jedenfalls kündet die Pater-Noster-Kirche. Meist andächtig schreiten die Besucher an den vielen Keramiktafeln vorbei, auf denen das Vaterunser, umrahmt von Blumendekor, in 140 Sprachen zu lesen ist. Sogar eine Tafel in Blindenschrift ist dabei. 

Die Kirche ist Teil eines Karmeliterklosters. Erstmals errichtet wurde das Gotteshaus um 330, später aber zerstört und erst im 19. Jahrhundert wieder aufgebaut. Doch der Ölberg blieb stets mit der Lehre Jesu verbunden. An keinem Ort dieser Welt wird die vereinigende Kraft des einzigen von Jesus selbst bezeugten Gebetes wohl deutlicher als hier. Die Corona-Krise verhindert es derzeit zwar, doch üblicherweise kommen auf dem Ölberg täglich viele Hundert Christen aus unterschiedlichen Konfessionen und Nationen zusammen. Das spirituelle Glaubensband, das weltweit rund 2,3 Milliarden Menschen verbindet, ist hier dann fast körperlich spürbar. Oft ergeben sich Gespräche und Bekanntschaften über Ländergrenzen hinweg. Der Abschiedsgruß vieler Christen „Wir bleiben im Gebet verbunden“ bekommt auf dem Ölberg noch einmal eine ganz besondere Bedeutung. 

Eine Strahlkraft über alle Kulturen hinaus

„Kein Gebet ist rund um den Erdball so bekannt wie das Vaterunser“, berichtet Karmelitenpater Reinhard Körner, der im brandenburgischen Birkenwerder seit Jahren Exerzitien anbietet und 2002 das Buch „Das Vaterunser – Spiritualität aus dem Gebet Jesu“ veröffentlicht hat. Seinen Recherchen zufolge wurde das Vaterunser, das Jesus ursprünglich auf Aramäisch gesprochen hat, in mehr als 1200 Sprachen übersetzt. Der Gebets- und Bibeltext eint Protestanten, Orthodoxe, Katholiken, Anglikaner und Angehörige der Freikirchen.

Unzählige Heilige und Theologen haben sich mit dem Gebet bereits in Schriftform befasst. Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Teresa von Ávila, Meister Eckhart, Martin Luther, Romano Guardini, Papst Benedikt, nur um mal ein paar Namen zu nennen. Es soll, laut Körner, Jahre gegeben haben, in denen bis zu 40 Bücher über das Gebet publiziert wurden. 

Spätestens seit dem 2. Jahrhundert sind die Worte Jesu, die in der Bibel von den Evangelisten Matthäus und Lukas in leicht unterschiedlicher Form überliefert wurden, fester Bestandteil der Liturgie fast jeden christlichen Gottesdienstes.

Nach Ansicht des katholischen Theologen Jürgen Werbick ist das Gebet „eine Kurzfassung des christlichen Glaubens. Die Essenz gewissermaßen“, wie er im Gespräch mit dieser Zeitung sagt. Seine weltweite spirituelle Strahlkraft, „über alle Kulturen hinaus“, erklärt sich Werbick mit der urmenschlichen Sehnsucht, die das Gebet ausdrückt. Es formuliert „Hoffnungen, die tief in der Seele verankert sind“. Nach einem Gott, der trotz der unendlichen Weite und Größe des Universums jeden einzelnen Menschen im Blick hat, ihn führt und behütet, wie man sich das von einem Vater wünscht. Man spüre, dass man in der Unendlichkeit von Raum und Zeit „mehr ist als ein Staubkorn, das verweht“, sagt Werbick.

Seinen Ursprung hat das Gebet Jesu im jüdischen Kaddisch, in dem ebenfalls die Größe und der Name Gottes gepriesen und geheiligt werden. „Das Vaterunser ist aber nicht nur aus dem jüdischen Beten herausgewachsen, es hat Ausstrahlungen auch in den Koran gefunden“, erklärt Werbick. Am besten herausgearbeitet hat diese interreligiöse Bedeutung wahrscheinlich der evangelische Theologe Hans-Martin Barth in seinem Buch „Das Vaterunser – Inspiration zwischen Religionen und säkularer Welt“. 

Auch diese innere Verbindung der drei großen Buchreligionen ist in Jerusalem fast überall spürbar. Während die Besucher der Pater-Noster-Kirche an einzelnen Steintafeln stehen bleiben und dabei manchmal still ihre Lippen bewegen, werden vom warmen Orientwind gelegentlich die Rufe des Muezzins von der Al Aqsa-Moschee über das Kidron-Tal in das christliche Gotteshaus getragen. Die Moschee ist die drittwichtigste Pilgerstätte des Islams. 

Felsendom, Grabeskirche und Klagemauer

Überhaupt hat man vom Ölberg einen wunderbaren Blick auf die Altstadt Jerusalems, in der gleich drei Weltreligionen beheimatet sind. Man sieht die goldene Kuppel des muslimischen Felsendoms, den Turm der Grabeskirche Christi. Auch die Klagemauer, die wichtigste heilige Stätte des Judentums, ist von der Pater-Noster-Kirche nur 20 Gehminuten entfernt. 

Andreas Kaiser