Ehemalige Flüchtlinge aus Vietnam
„Die Kirche hält uns alle zusammen"
Wer in Norden den katholischen Gottesdienst besucht, sieht viele Menschen vietnamesischer Herkunft. Auch die 43-jährige Nga Tran-Nguyen gehört zu dieser Gemeinschaft. Als kleines Mädchen ist sie aus Südvietnam geflohen, heute sieht sie Ostfriesland als ihre Heimat an.
„Da drin liegt der Rosenkranz meiner Oma“, sagt Nga Tran-Nguyen und zeigt auf eine Glasvitrine. Sie bleibt vor dem Schaukasten stehen. Neben der schlichten Kette aus Holz sind noch weitere Objekte zu sehen: ein abgegriffenes Gebetbuch und eine kleine Madonna mit ausgebreiteten Armen. Alle drei Gegenstände hat die Großmutter bei ihrer Flucht 1980 aus Vietnam mitgenommen – die Muttergottes gut verpackt in einer leeren Filmdose, um sie auf dem schwankenden Boot vor dem Wasser des südchinesischen Meeres zu schützen. „Sie war meiner Oma sehr wichtig“, erklärt Nga Tran-Nguyen mit nachdenklichem Gesicht. Auch sie saß damals mit in diesem Boot.
Die Ausstellung (siehe unten), die sich die 43-Jährige im Norder Teemuseum ansieht, beschreibt das Leben einiger Vietnamesen, die nach ihrer Flucht in Ostfriesland ein neues Zuhause gefunden haben. Nga Tran-Nguyen gehört dazu, auch ihr Foto hängt an einer der Stellwände. Und ihre Geschichte gleicht der vieler anderer „boatpeople“ Ende der siebziger Jahre. Denn nach dem Krieg beginnt für viele Menschen in Südvietnam eine Zeit der Verfolgung, Unterdrückung, Gewalt, Armut und Hunger. Auch die Familie von Nga Tran-Nguyen, die damals mit sieben Kindern in Saigon wohnt, ist betroffen. Der Vater kommt in ein Arbeitslager, die älteren Geschwister dürfen nicht mehr in die Schule gehen, die Jungen müssen zum Militär. „Man durfte nicht mehr sagen, was man wirklich gedacht hat und als Katholik hat man keine Glaubensfreiheit“, erzählt sie beim Gang durch die Ausstellung.
Die Eltern sehen daher keine Zukunft für die Kinder, die älteren Brüder und Schwestern sollten das Land mit der Großmutter verlassen. Dass Nga Tran-Nguyen mitfährt, ist gar nicht geplant. Aber sie weint am Ufer so laut, dass ein Mann ihr den Mund zuhält und an Bord bringt. Da ist sie gerade fünf Jahre alt. An die Seefahrt kann sie sich kaum erinnern. „Ich glaube, ich bin betäubt worden, damit ich nicht alles mitkriege“, meint sie. Die „Cap Anamur“ fischt die Geflüchteten auf und so landen sie in Deutschland. „Im Herbst, es war so kalt“, weiß die 43-Jährige noch.
„Meine Heimat ist jetzt Ostfriesland“
Die Integration klappt gut. Tagsüber geht sie erst in den Kindergarten und später in die Schule, verbringt die Nachmittage bei einer deutschen Familie in Wedel kommt abends wieder mit der Oma und den Geschwistern zusammen. Die Eltern kommen erst drei Jahre später nach. Aber die Großmutter achtet darauf, dass die Kinder in der katholischen Gemeinde alles mitmachen, was nur eben geht: Gottesdienste, Messdienerarbeit, Pfarrjugend, Kolpingsfamilie. „So haben wir schnell die deutsche Sprache und Kultur gelernt.“ Hatte sie nicht manchmal Heimweh nach Vietnam? Sie schüttelt beim Blick auf den Rosenkranz ihrer Oma zögernd den Kopf und spricht eher von Sehnsucht nach ihren Wurzeln. Deshalb bereist sie nach dem Abitur das Land mit dem Rucksack. Natürlich nehmen die Verwandten sie herzlich auf, aber trotzdem fühlt sie sich fremd dort. „Das war nicht mehr mein Zuhause, meine Heimat ist jetzt Ostfriesland“, sagt sie in breitem Norddeutsch und lädt dann im Museum zu einer Tasse Tee ein. Natürlich mit Kluntje und Sahne.
Jetzt lebt Nga Tran-Nguyen mit ihrem Mann und zwei Kindern in Norden. Die gelernte Versicherungskauffrau hat bis vor kurzem im Büro der katholischen Urlauberseelsorge gearbeitet und will sich jetzt auf ihr Fernstudium der Theologie konzentrieren. „Ich will mehr über unseren Glauben wissen“, sagt sie. Und hofft, später für die Kirche arbeiten zu können. Denn die ist sehr wichtig für sie. Dankbarkeit, Glaubensgemeinschaft, Zusammenhalt sind die ersten Stichworte, die ihr dazu spontan einfallen.
Nach dem Besuch des Teemuseums eilt die 43-Jährige deshalb zur katholischen St.-Ludgerus-Kirche in Norden. An diesem Nachmittag feiert die 160 Mitglieder starke vietnamesische Gemeinschaft dort einen festlichen Gottesdienst. Nga Tran-Nguyen muss pünktlich sein, sie singt im Cäcilia-Chor mit. Schon 15 Minuten vor dem Beginn sitzen viele Gäste in den Bänken und beten. Als die Eingangsglocke erklingt, ist die Kirche fast voll. Viel gesungen wird in der nächsten Stunde – wunderbar melodische Lieder aus Vietnam. Auch wenn die Messe komplett in vietnamesischer Sprache gehalten wird, fühlen sich die wenigen deutschen Besucher sichtlich wohl darin.
Die Kirche in Norden ist für die Menschen vietnamesischer Herkunft ein wichtiger Treffpunkt. „Sie ist wie ein Band, das uns alle zusammenhält“, sagt Nga Tran-Nguyen. Daher engagieren sich viele in der Gemeinde. „Wenn Sie hier in einen Gottesdienst gehen, sehen Sie einfach viele vietnamesische Gesichter“, erklärt sie. „In den Bänken, am Ambo, im Chor, bei den Messdienern.“ Auch sie selbst gehört zu den Aktiven. Früher als Firmkatechetin oder beim Blumenschmuck, heute bringt sie die Krankenkommunion, leitet mit Jolanta Schulz die Seniorenarbeit, macht in der Flüchtlingsarbeit mit.
Feierliche Prozession mit der Gottesmutter von La Vang
Und St. Ludgerus achtet dieses große Engagement. Das wird nicht nur beim Pfarrfest deutlich, wenn der Frühlingsrollen-Stand dicht umlagert ist. Oder bei der Maiandacht, bei der in einer feierlichen Prozession die Gottesmutter von La Vang (eine katholische Wallfahrtskirche in Vietnam) durch Norden getragen wird. Sondern jeden Sonntag ganz selbstverständlich in der Messe. Schon seit vielen Jahren werden Schrifttexte in zwei Sprachen vorgelesen. „Und die Gemeinde antwortet auf Vietnamesisch“, erklärt Nga Tran-Nguyen. Außerdem gestaltet die vietnamesische Gemeinschaft alle zwei Jahre die Krippe in der Kirche.
Vietnamesisch geht es auch nach der Messe an diesem Samstag weiter. Fast alle Gäste marschieren nach dem Schlusslied ins Pfarrzentrum. Fein gedeckt sind die Tische, ein Willkommensband hängt unter der Decke und ein Bild mit den Märtyern der alten Heimat an der Wand. Aus der Küche bringen mehrere Männer und Frauen Schüsseln und Platten mit reichlich Essen: Rindfleischsuppe, Frühlingsrollen, gewürzter Reis, Fleischpastete. „Die Leute haben seit gestern Abend gekocht“, weiß Nga Tran-Nguyen. Sie begrüßt Freunde und Bekannte, setzt sich mitten hinein, plaudert, isst, genießt die Gemeinschaft. Es wird sicher spät heute Abend.
Petra Diek-Münchow
Ausstellung im Teemuseum Norden
Nach dem Ende des Vietnamkrieges 1975 sind etwa 1,5 Millionen Menschen vor der Verfolgung durch die Kommunisten aus Südostasien geflohen. Da sie versuchten, per Boot über das Südchinesische Meer ins Ausland zu kommen, wurden sie oft „boatpeople“ genannt. Die Bundesrepublik hat etwa 40 000 Vietnamesen aufgenommen. In Niedersachsen wurden besonders im ostfriesischen Norden viele dieser Flüchtlinge betreut.
Im Teemuseum in Norden (Am Markt 36) ist bis 8. April eine Ausstellung zu diesem Thema zu sehen. Sie spannt einen Bogen vom Ende des Vietnamkriegs bis zu aktuellen Fluchtbewegungen. Im Mittelpunkt stehen Interviews mit Zeitzeugen. Öffnungszeiten im Winter: mittwochs und samstags 11 bis 16 Uhr, von März bis April dienstags bis samstags 10 bis 17 Uhr.