Die Kirche muss zurück nach Galiläa
Wo geht es hin mit der Kirche im Norden? Wo kommt sie her? Was ist ihre Aufgabe? Diese Fragen stellte sich Bischof Franz-Josef Bode, Bischof des Mutterbistums Osnabrück in der Predigt zur Feier des 25-jährigen Bestehens des Erzbistums Hamburg. Hier Auszüge aus dem Manuskript.
„Allgemein war es der herzlichste Wunsch: Mögen wir und unsere Nachkommen doch fernerhin mit unserem verehrungswürdigsten, geliebtesten Oberhirten vereint, von hochdessen väterlichen weisen Hand geleitet, und nicht durch ein leidiges Verhängniß von der Osnabrückschen Diozese getrennt werden.“ Dieser Wunsch war vor 200 Jahren weit verbreitet, als die Dekanate Wiedenbrück und Rietberg vom Bistum Osnabrück getrennt wurden im Zuge der Neuordnung nach den Napoleonischen Kriegen.
Vor 25 Jahren, als politische Veränderungen wieder eine Neuordnung der Bistümer erforderten, war das sehr viel anders. Große Teile des Nordens, insbesondere Hamburg, ersehnten seit langem nichts mehr, als ein eigenständiges, von Osnabrück getrenntes Bistum zu gründen. Der Nordosten wünschte sich das eher weniger. Die Katholiken in Mecklenburg waren anhaltend dankbar für die guten Beziehungen und die Verbundenheit mit Osnabrück in den Jahren der Teilung Deutschlands.
In der ersten Bischofskonferenz, an der ich als Weihbischof in Paderborn teilnahm – das Erzbistum hatte damals ebenfalls mit der Frage einer Teilung zu tun (Paderborn-Magdeburg) – ging es in den Auseinandersetzungen über die künftige Kirchenlandschaft hoch her. Das erste Votum der Bischöfe war mit verschiedenen Varianten durchaus noch für das Gesamtbistum Osnabrück. Aber die Achse Hamburg – Rom kam zu einem anderen Ergebnis. Das beließ zwar die Hamburger, Kieler und Schweriner „dem verehrungswürdigen und geliebten Oberhirten Ludwig Averkamp und dessen ‚väterlichen weisen Hand‘, bescherte aber Osnabrück ,das leidige Verhängnis der Trennung‘ und ließ so das neue Erzbistum Hamburg erstehen. Die sich daraus ergebende Sedisvakanz im Bistums Osnabrück eröffnete mir als Paderborner Weihbischof die Chance, noch in demselben Jahr dort Bischof zu werden. … Für beide neu umrissenen Bistümer hat die Teilung enorme Herausforderungen mit sich gebracht. …
Es waren neue und andere Wege notwendig, so wie die drei Weisen gestern auf einem anderen Weg in ihr Land heimzukehren hatten. Und es sind heute wieder neue und andere Wege notwendig für die Zukunft. Wie können diese Wege aussehen in diesen verrückten Zeiten der Kirche und der Welt? Wohin sollen wir als Kirche gehen?
Bei aller Verschiedenheit unserer Bistümer bewegt uns doch dieselbe Frage, ja bewegt uns auch ökumenisch dieselbe Frage unter allen Christen. Ich möchte dazu einen Text zitieren, der schon 80 Jahre alt ist und doch heute geschrieben sein könnte. Er stammt von dem Jesuiten und Märtyrer Alfred Delp:
„Die Kirchen scheinen sich durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Weg zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von der (jetzigen) Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. (…) Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts (mehr). Immer noch liegt der ausgeplünderte Mensch am Wege. Soll der Fremdling ihn noch einmal aufheben? Man muss, glaube ich, den Satz sehr ernst nehmen: was gegenwärtig die Kirche beunruhigt und bedrängt, ist der Mensch. Der Mensch außen, zu dem wir keinen Weg mehr haben und der uns nicht mehr glaubt. Und der Mensch innen, der sich selbst nicht glaubt, weil er zu wenig Liebe erlebt und gelebt hat. …
Erziehung zur Ehrfurcht dem anderen Menschen gegenüber. Weg von der Anmaßung zur Ehrfurcht. Die Kirche muss sich selbst viel mehr als Sakrament, als Weg und Mittel begreifen, nicht als Ziel und Ende. … Der anmaßende Mensch ist schon in der Nähe der Kirche immer vom übel, geschweige denn in der Kirche und gar im Namen der Kirche oder als Kirche.“ Soweit Alfred Delp.
Wohin also, liebe Schwestern und Brüder, sollen wir gehen? Sie sind womöglich einigermaßen verwundert, wenn ich heute Abend ganz schlicht antworte: nach Galiläa. Am Schluss des Markusevangeliums heißt es, als die Frauen vor dem leeren Grab stehen: „Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. … Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen.“ Ein erstaunliches Wort. Wer dem Auferstanden begegnen will, muss zurück nach Galiläa, räumlich über 200 Kilometer von Jerusalem entfernt. Was bedeutet das?
Der Auferstandene ist dort zu finden, wo er mit den Menschen angefangen hat im sogenannten „galiläischen Frühling“. Dort, wo das alles geschah: Die Taufe im Jordan; die Versuchungen in der Wüste und das Ringen um den weiteren Weg; Nazareth und das Bekenntnis in der Synagoge: Ich bin gesalbt und gesandt … zu den Armen und Bedrängten; Kapharnaum und der See mit Sonne, Sturm und Regen; die Berufung der ersten Jünger; neue Netzwerke für Menschenfischer; Heilungen von Fieber, Aussatz, Lähmung, Taubstummheit, Blindheit, Besessenheit, ja Auferweckung vom Tod zum Leben; „… er heilte sie alle“, heißt es im Evangelium; Gleichnisse, eine neue Sprache mit Bildern aus dem Leben.
Eine Kirche, die dem Auferstandenen auch in Zukunft begegnen will, muss wieder nach Galiläa gehen, in die völlige Einfachheit, zu den Menschen, wo sie leben, lieben und leiden, wo die Leute Jesu nicht nur in festen Gemeinden leben, so sehr wir sie brauchen, sondern an vielen neuen und anderen Orten, in Kindergärten, in Kunst und Kultur, Musik und geistlichen Räumen, in Beratungseinrichtungen und Bildungsstätten, auf Pilgerreisen zu Gnadenorten, auch in Schulen und überall dort, wo Menschen um ihre Beziehungen, ihre Versorgung, ihr Dasein bangen, wo sie einander beistehen und helfen, wo Generationen sich umeinander kümmern, Menschen geboren werden und sterben, wo sie einen Lebensglauben haben, der nach Orientierung, nach Sinn, nach dem Anderen und Größeren sucht, wo Sehnsucht nicht mehr nur durch Konsum und Macht und Geltung zu stillen ist.
Kirche muss aufbrechen auf den Weg von Jerusalem nach Galiläa. Und dies gilt besonders für die hierarchische, amtlich verfasste Kirche. Wir – und ich schließe mich als Bischof ein – wir müssen wie damals die Jünger weggehen von Jerusalem, der großen, festen Stadt, dem Ort der religiösen, politischen und gesellschaftlichen Mächte und des Machtgebarens, weggehen in der Hoffnung, mit dem Auferstandenen das Galiläa des Ursprungs neu zu erfahren und neu zu verstehen, dass es nicht um die Rückeroberung alter Herrlichkeit geht, sondern darum, mitten unter den Menschen zu sein und in neuer Gemeinschaft hinter Jesus her zu sein, in seiner Nachfolge zu den Menschen. …
Dies wäre eine Kirche, in der mehr Frauen die frohe Botschaft überbringen – wie damals nach der Auferstehung an Petrus und die anderen Jünger –, in der die Frauen nicht aufgeben, nach den Begrabenen und verloren Geglaubten zu schauen – hoffend wider alle Hoffnung –, und deshalb die ersten Zeuginnen werden dafür, dass der große Stein des Grabes schon weggewälzt ist.
Ich wünsche mir eine galiläische Kirche, in der wir Gastfreundschaft anbieten, aber auch um Gastfreundschaft werben bei den Menschen, die kaum noch eine Beziehung zur Kirche haben oder gar nicht zur Kirche gehören.