75 Jahre Niedersachsen
Die Konfessionen im Land Niedersachsen
Im vierten Teil unserer Serie zum 75. Landesgeburtstag geht es um die Entwicklung der Bevölkerungszahl in Niedersachsen nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch Flucht und Vertreibung verdreifachte sich im Bistum Hildesheim die Zahl der Katholiken.
Mit der Verordnung Nr. 55 der britischen Militärregierung vom 23. November 1946 konstituierte sich mit rückwirkender Rechtskraft vom 1. November durch den Zusammenschluss der ehemaligen preußischen Provinz Hannover mit den Ländern Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe das Land Niedersachsen mit der Hauptstadt Hannover. Diese Zusammenführung unterschiedlicher territorialer Gebilde spiegelte sich in der kirchlichen Organisation wider. Die evangelische Kirche, der die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Niedersachsens angehörte, glie-derte sich in die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, die nicht zuletzt durch die Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge zur größten Landeskirche im deutschen Protestantismus wurde, in die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig, die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Oldenburg und die Evangelisch-lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe sowie die Evangelischreformierte Kirche Nordwestdeutschland. Die katholische Kirche unterteilte sich in die Diözesen Hildesheim und Osnabrück, deren Territorium durch die Weser getrennt wurde, sowie den zum Bistum Münster gehörenden Offizialatsbezirk Oldenburg, der den ehemaligen Freistaat umfasste; einige Randgemeinden gehörten zum Erzbistum Paderborn beziehungsweise zum Bistum Fulda. In Südoldenburg, dem Emsland und dem unteren Eichsfeld (Kreis Duderstadt) stellten die Katholiken die Mehrheit und in den Landkreisen Hildesheim und Osnabrück eine beachtliche Minderheit der Bevölkerung dar. Da die Kirchen als Organisationen den Zweiten Weltkrieg weitgehend intakt überstanden hatten, kam ihnen im besetzten Niedersachsen beim Wiederaufbau besondere Bedeutung zu. Die britische Besatzungsmacht arbeitete eng mit den Pfarrern zusammen; die zahlreichen kirchlichen caritativen Einrichtungen leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Linderung der Nachkriegsnot. Diese erreichte durch das Einströmen von Flüchtlingen und Vertriebenen nach Niedersachsen, das wegen seiner geographischen Lage am Ostrand der britischen Zone besonders schwer betroffen war, ein gewaltiges Ausmaß. Die Zuwanderung der Vertriebenen trug erheblich zur Renaissance von Religion und Kirche in der Nachkriegszeit bei, die sich in einem Anstieg der Zahlen der Gottesdienstbesucher und der Teilnehmer an kirchlichen Kundgebungen dokumentierte.
Vor gewaltigen Herausforderungen
Die Bevölkerungsbewegungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wirkten sich tiefgreifend auf die Konfessionslandschaft in Deutschland aus; bis dahin konfessionell einheitliche Gebiete, die ihren konfessionellen Charakter seit der Reformation und Gegenreformation nicht wesentlich verändert hatten, wurden durch den Zuzug andersgläubiger Flüchtlinge mit konfessionellen Minderheiten durchsetzt. Die Kirchen standen in den neuen Diasporagebieten durch die Schaffung einer kirchlichen Infrastruktur vor gewaltigen Herausforderungen. Da die Bemühungen katholischer Bischöfe, insbesondere des Hildesheimer Bischofs Joseph Godehard Machens, bei den alliierten Behörden um Berücksichtigung der konfessionellen Gegebenheiten bei der Einweisung der Vertriebenen erfolglos blieben, wurden Katholiken in höherem Maße in protestantischen Gebieten angesiedelt als Protestanten in katholischen Gegenden. Durch die Aufnahme größerer Transporte aus dem Ermland, Oberschlesien und der Grafschaft Glatz lag in den ganz überwiegend evangelischen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen der Prozentsatz der Katholiken unter den Vertriebenen bedeutend höher als unter der einheimischen Bevölkerung. Die konfessionelle Zusammensetzung der Einwohner Niedersachsens nahm eine interessante Entwicklung (siehe Statistik: „Entwicklung der Bevölkerungszahl in Niedersachsen“).
Von dieser Entwicklung war in besonderem Maße das Bistum Hildesheim betroffen. Hier verdreifachte sich die Anzahl der Katholiken; sie stieg von 263 800 (1939, 9 Prozent der Gesamtbevölkerung) auf 662 000 (1948, 13,2 Prozent) an. Die Integration der Flüchtlinge wurde dadurch erschwert, dass der größte Teil der Vertriebenen aus konfessionell homogenen Gebieten kam und nun nicht nur in eine landsmannschaftlich anders geartete Umwelt versetzt, sondern auch mit der ihm unbekannten Situation der Diaspora konfrontiert wurde. Die Bistumsleitung wurde zu einem raschen Handeln nicht zuletzt deshalb gezwungen, weil erhebliche Verluste an katholischen Gläubigen zu befürchten waren. Auf der anderen Seite konnte eine katholische Gemeinde den katholischen Flüchtlingen ein Stück ihrer verlorenen Heimat ersetzen und ihnen das Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Zu den ersten Maßnahmen der Bistumsleitung gehörten die Erfassung der zugewanderten Katholiken, die Anstellung, Bevollmächtigung und gerechte Verteilung der Geistlichen aus den Ostgebieten, die Schaffung provisorischer Gottesdiensträume und notdürftiger Dienstwohnungen, wobei in vielen Fällen lediglich Notunterkünfte zur Verfügung standen. Häufig war nur durch das Entgegenkommen der evangelischen Kirche, die ihre Gotteshäuser zur Verfügung stellte, die Möglichkeit zur Messfeier gegeben, wobei jedoch mit Rücksicht auf den evangelischen Hauptgottesdienst ungünstige Zeiten in Kauf genommen werden mussten. Das Problem der Erstellung von Notkirchen und Kapellen und in einer zweiten Phase der Erwerb von Baugrundstücken, die Erbauung stabiler Kirchen und kirchlicher Einrichtungen mussten gelöst werden. Als besondere Schwierigkeiten stellten sich im Entstehungsprozess neuer Gemeinden der heterogene Charakter der Gläubigen, die unterschiedlichen Gebieten entstammten, und die große Fluktuation durch Zu- und Abwanderung heraus; ein wichtiges integrierendes Element waren häufig die gemeinsamen Anstrengungen um die Fertigstellung des Kirchenbaus.
Ein planmäßiger Kirchenbau und eine systematische Ausweitung der Pfarr- organisation setzten erst im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Währungsreform ein. Eine wichtige Voraussetzung war die Einführung der Diözesankirchensteuer, die 1949 die Ortskirchensteuer ablöste. In Gebieten mit geringem Steueraufkommen, wozu in der Regel die Diaspora gehörte, konnten nun neue Seelsorgestellen schneller eingerichtet und leichter finanziert werden. Dennoch blieben die finanzschwachen niedersächsischen Diasporadiözesen in der Folgezeit auf Unterstützungen von außen angewiesen. Diese konnten ein mal in der Form eines überdiözesanen Finanzausgleichs geschehen; vor allem aber wurden sie durch den Bonifatiusverein geleistet.
„Großangriff der katholischen Kirche“
Für die Katholiken und die katholische Kirche war das mehrheitlich protestantische Land Niedersachsen „ein steiniger Boden“ (J. Kuropka). Der Bau katholischer Kirchen in evangelischen Gebieten und die Gründung von Ordensniederlassungen lösten alte antikatholische Ressentiments aus. So äußerte der hannoversche Landesbischof Hans Lilje: Niedersachsen „sei das Hauptziel eines strategischen Großangriffs der katholischen Kirche“. Und der sozialdemokratische Sozialminister Pastor Heinrich Albertz, der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, warf der katholischen Kirche vor, dass sie „die Chance der Teilung Deutschlands und Europas ausnutzt, um von einer anderen Seite her die Freiheit unseres Volkes zu gefährden“. Das Verhältnis der katholischen Kirche zur SPD-geführten Landesregierung wurde erheblich durch den „Schulkampf“ belastet. Während die niedersächsischen Bischöfe die Rückgabe der in der nationalsozialistischen Zeit aufgehobenen konfessionellen Volksschulen und Neueinrichtungen forderten, strebte die Landesregierung die christliche Gemeinschaftsschule an, die im Schulgesetz von 1954 zur Regelschule erklärt wurde. Eine Beilegung des Konfliktes und eine Verbesserung des Verhältnisses von katholischer Kirche und Staat erfolgte erst durch das Niedersachsenkonkordat von 1965.
Hans-Georg Aschoff