6. Februar als historischer Tag

Die Mauer ist weg - länger als sie je stand

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Vor 10.316 Tagen ist die Mauer gefallen - damit ist sie länger weg, als sie überhaupt gestanden hat. Ein Tag zum Erinnern.

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Ein Teilstück der Berliner Mauer steht noch an der East Side Gallery in Berlin. Foto: kna


Für Millionen Deutsche ist der 9. November 1989 bis heute ein Tag zum Heulen: ergreifend, anrührend, unvergesslich. Sie waren mit der Mauer aufgewachsen oder haben sie sogar vor ihren Augen wachsen sehen. Nicht so für die unter 30-Jährigen der Republik: Sie mussten erst irgendwann lernen, dass eine Mauer zwischen zwei deutschen Staaten überhaupt je existiert hat.

Geschichte entsteht schleichend und unentwegt. Nur ganz selten entsteht ein Bewusstsein, dass man selbst ein Teil davon ist. Der 6. Februar ist dafür eine schöne Gelegenheit. Am Dienstag nämlich wird die Berliner Mauer 10.316 Tage lang gefallen sein - einen Tag länger, als sie gestanden hat.

Es sind Schlüssel-Szenen kollektiver Erinnerung: Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der deutschen Botschaft in Prag ("Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise..."). Das Klopfen aufs Trabi-Dach an der Bornholmer Brücke. SED-Politbüromitglied Günther Schabowski, der bei der entscheidenden Pressekonferenz den entscheidenden Satz stammelt: "Das trifft nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich...". Er hatte die Sperrfrist vercheckt, wann das neue DDR-Reisegesetz in Kraft tritt. Zehntausende Berliner strömen zu den Schlagbäumen. Es ist Mauerfall.

Rückblende: Noch im Juni 1961 hatte der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht gelogen: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Doch schon am 13. August entstand er doch, der "antifaschistische Schutzwall" - um der "Wühltätigkeit den Weg zu verlegen", so der Ministerratsbeschluss. Gemeint war "Republikflucht", etwa durch illegalen Tunnelbau. Über 1,5 Millionen DDR-Bürger hatten sich bereits in die Berliner Westsektoren abgesetzt.

Die Baukosten allein für Berlin beliefen sich bis 1964 auf 400 Millionen DDR-Mark. Betonelemente, Stacheldraht und Wachtürme trennten nun Ost- und Westteil der Stadt und umschlossen komplett alle drei Sektoren des Westteils. Die 167,8 Kilometer lange, schwer bewachte "Mauer" ergänzte die 1.378 Kilometer lange innerdeutsche Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Sie war bereits 1952 "befestigt" worden, um den "Abfluss an Humankapital" zu stoppen.

 

Todesstreifen statt Potsdamer Platz

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Besucher in Westberlin betrachten von einer
Plattform aus das Brandenburger Tor und die Mauer.
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Bei Fluchtversuchen Richtung West-Berlin wurden mindestens 138 Menschen getötet. Wer als "Nachgeborener" heute an jenem Potsdamer Platz flaniert, der nach der Wende mehr wuchtig als schön aus dem Boden gestampft wurde, kann nur ungläubig staunen, dass dort nur eine Generation zuvor eine riesige öde Brache gegähnt haben soll: der "Todesstreifen".

Bis Ende 1990 wurde die Grenzanlage in Berlin fast komplett abgerissen: von sogenannten Mauerspechten mit privatem Hammer und Meißel; der weit größere Teil aber zermahlen für den Straßenbau. Mauersegmente wurden als Exportschlager in die ganze Welt verkauft oder verschenkt. Nur rund 1,9 Kilometer blieben als Denkmal stehen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte 2014 beim 25. Mauerfall-Jubiläum: "Kein Wunder, dass nach der Grenzöffnung sofort Hand an das verhasste Bauwerk gelegt und es in seine Einzelteile auseinandergenommen wurde." Der Wunsch war groß, dieses Schandmal jahrzehntelanger Teilung zu tilgen - "menschlich nur zu verständlich".

Nun ist die Mauer zwar weg - aber alle wollen sie sehen. Heute erinnert meist nur noch eine Markierung im Asphalt an den ehemaligen Verlauf. 2014 wurde eine "Lichtgrenze" als Kunst installiert, die es schließlich sogar zum kurzlebigen "Wort des Jahres" schaffte. Nur drei Teilstücke des "antifaschistischen Schutzwalls" in Berlins Mitte sind am originalen Standort erhalten geblieben. Die 1,3 Kilometer lange sogenannte East Side Gallery entlang der Spree wurde im Frühjahr 1990 von 118 Künstlern bemalt.

Fast scheint es, als würde die Mauer auch ein bisschen vermisst. In den vergangenen Tagen sorgte ein möglicherweise "neues" Stück in Schönholz, zwischen Pankow und Reinickendorf, für Aufsehen. Landesdenkmalamt und Mauer-Stiftung streiten, ob es sich tatsächlich um "Schutzwall" oder nur um eine schnöde grenznahe Mauer handelt, etwa zur Begrenzung eines Gewerbegebietes oder von Bahnanlagen. Fest steht immerhin: Sie steht noch, auch 10.316 Tage nach dem Mauerfall.

kna