Interview mit dem Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer

"Die Menschen sehnen sich nach einer Erneuerung"

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Heiner Wilmer (58) ist seit September 2018 Bischof von Hildesheim. Er gilt als Vorkämpfer für eine schonungslose Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und für Reformen in der katholischen Kirche. Im Interview spricht er über die Rolle der Frau in der Kirche, den "synodalen Weg" und seine Sympathien für die "Fridays for Future"-Bewegung.

Foto: kna
Seit gut sechs Monaten im Amt: Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer
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Bischof Wilmer, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, hat jüngst Interview-Fernduelle zwischen Bischöfen kritisiert. Dürfen Sie jetzt überhaupt noch Ihre Meinung sagen?
Ja, da bin ich ganz entspannt. Zu unserem Bistum Hildesheim darf ich das ohnehin. Und mit Blick auf die Bischofskonferenz gehe ich davon aus, dass wir einen einheitlichen Kurs fahren.


Sie sind erst seit September vergangenen Jahres im Amt. Wie beurteilen Sie Ihr bisheriges Wirken als Bischof?
Spannend. Ich bin in möglichst vielen Pfarreien unterwegs und es gab Dialogveranstaltungen in fünf Städten. Ich gebe zu, mein Hemd war danach immer leicht verschwitzt. Aber ich habe mich gerne den Menschen gestellt und tue es auch weiter. Ich merke, dass sie sich nach einer Erneuerung der Kirche sehnen.


Welche kritischen Themen wurden angesprochen?
Die größten Spannungen habe ich bei der Rolle der Frau in der Kirche wahrgenommen. Der Wunsch nach mehr Mitwirkung ist sehr ausgeprägt. Eine andere kritische Frage war: Wie geht Verkündigung des Evangeliums mit immer weniger Priestern?


Und das Thema Missbrauch?
Dieses Thema spreche ich in allen Foren immer direkt von mir aus an. Im Bistum Hildesheim haben wir zum einen eine hohe Anzahl von Betroffenen. Zum anderen sind wir das einzige deutsche Bistum, in dem es Anschuldigungen gegen einen Bischof gibt. Heinrich Maria Janssen wird vorgeworfen, zwei Jungen missbraucht zu haben. Kürzlich haben wir eine externe Expertenkommission beauftragt, diese Vorwürfe aufzuarbeiten und weit darüber hinausgehende Untersuchungen zu tätigen, die die gesamte Amtszeit von Bischof Janssen von 1957 bis 1982 umfassen. Auch wenn die mutmaßlichen Taten teilweise weit zurückliegen, leiden die Betroffenen heute noch darunter. Sie müssen im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Die Wahrheit ist der erste Schritt zur Gerechtigkeit.


Wie kann die katholische Kirche nach der Missbrauchskrise ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangen?
Diese Frage ist mir viel zu selbstbezogen. Die eigentliche Frage muss lauten: Wie kann die Kirche näher bei den Menschen sein? Wir müssen unser Augenmerk wieder mehr auf die Schwachen und Bedrängten richten, denen es nicht so gut geht.


Sie haben einmal gesagt, dass Missbrauch von Macht «in der DNA der Kirche» stecke. Stehen Sie weiter zu dieser Aussage?
Auf jeden Fall. Ich wollte damit nicht sagen, dass die Kirche ein Sündenpfuhl ist. Sie ist einerseits heilig - von Gott her. Aber sie ist andererseits auch sündig - von den Menschen her. Nicht nur der einzelne Mensch ist sündig, sondern die Kirche qua Institution. Solange es die Kirche gibt, gab es auch immer gewisse Strukturen, die nicht gut sind.


Wo sehen Sie solche Strukturen heute und wie können sie verändert werden?
Die Kirche ist sehr hierarchisch strukturiert und sehr männlich geprägt. Um das zu ändern, brauchen wir eine Diskussionskultur, in der alle mitreden dürfen: Frauen, Männer, Ordensleute. Es kann nicht sein, dass nur unter Priestern diskutiert wird.


Heißt das, dass Frauen auch zu Priesterinnen geweiht werden sollten?
Ich finde nicht, dass dies ein Thema ist, über das man nicht reden darf. Ich habe große Lust, mich auf eine offene Diskussion einzulassen und bin gespannt, auf welche Wege uns der Heilige Geist führen wird.


Und wie stehen Sie zum Zölibat?
Die Missbrauchsdebatte hat eine Diskussion um den Zölibat entfacht. Ich finde aber, dass das Phänomen sexualisierter Gewalt in der Kirche grundsätzlich getrennt vom Zölibat zu betrachten ist. Eine Abschaffung des Zölibats würde nicht zu einem Ende von sexuellem Missbrauch führen. Das wäre zu einfach. Allerdings beobachte ich, dass viele Priester, die alleine leben, vereinsamen. Wir brauchen ein Gespräch darüber, inwieweit der Pflichtzölibat angebracht ist.


Die deutschen Bischöfe haben bei ihrem Treffen in Lingen beschlossen, einen "synodalen Weg" zur Erneuerung der Kirche zu gehen. Was erwarten Sie sich davon?
Ich erhoffe mir davon eine neue Art und Weise des Denkens in der Kirche. Es muss deutlich werden, dass wir Bischöfe nicht alleine unterwegs sind, um über die Zukunft zu beraten. Trägergruppen unserer Kirche müssen miteinbezogen werden, zum Beispiel das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, die Ordensleute sowie weitere getaufte Frauen und Männer.


Aber am Ende werden wahrscheinlich doch die Bischöfe entscheiden, oder?
Einige Themen wie beispielsweise die priesterliche Lebensform und die Rolle der Frau sind universalkirchlich zu beraten und zu entscheiden.


Sie sind nicht der einzige Reformer unter den deutschen Bischöfen, aber es gibt auch viele konservative Hirten. Wie groß schätzen Sie die Chance ein, Veränderungen durchzusetzen?
Ich erlebe die Bischofskonferenz als einen Ort, an dem intensiv und ernsthaft über Veränderungen beraten und gerungen wird. Es wird vielleicht länger dauern, als es dem einen oder anderen lieb ist, aber ich bin zuversichtlich.


Auch ihre Amtsbrüder in den norddeutschen Nachbarbistümern sind Reformen gegenüber aufgeschlossen. Gibt es Bemühungen, sich zusammenzutun?
Wir Bischöfe aus dem Norden und Osten Deutschlands kommen zusammen und verstehen uns gut. Das gilt aber auch für die Bischöfe in anderen Teilen Deutschlands.


Noch einmal zurück ins Bistum Hildesheim: Die durch Fusionen entstandenen Großgemeinden bereiten vielen Menschen Sorge. Teilen Sie die Bedenken?
Ich bin gegen weitere Fusionen. Mein Vorgänger Norbert Trelle hat die sogenannte Lokale Kirchenentwicklung angestoßen. In jeder Gemeinde soll ein Team aus getauften Frauen und Männern das kirchliche Leben gestalten. Einer davon kann Priester sein.


Muss aber nicht?
Angesichts der wenigen Priester sehe ich gar keine andere Möglichkeit, als dass in Zukunft auch Laien Gemeinden leiten.


Welche gesellschaftliche Bedeutung wird die katholische Kirche in zehn Jahren noch haben?
Die gesellschaftliche Bedeutung von Kirche wird sich sicherlich verändern. Um auch in Zukunft gehört zu werden, muss die Kirche prophetischer werden. Sie muss wieder deutlicher ihre Stimme erheben im Namen jener, die keine Stimme haben. Dafür darf die Kirche gerne etwas forscher sein.


Für wen sollte sie ihre Stimme erheben?
Beispielsweise für die Klimaschutz-Bewegung, die Greta Thunberg entfacht hat. Wir erleben zum ersten Mal eine Revolte von jungen Menschen, die noch nicht einmal wählen dürfen. Und sie haben Recht. So diplomatisch charmant hat noch nie jemand die Erwachsenen daran erinnert, was sie vertraglich vereinbart haben. Die Kirche muss Anwalt dieser Bewegung sein.

kna