Die Not am rettenden Ufer
Foto: Deutsche Bischofskonferenz/Maximilian von Lachner
Wieso sind Sie nach Griechenland und in die Türkei gereist?
Einmal im Jahr reise ich als Flüchtlingsbischof in Länder, in denen das Fluchtgeschehen eine besondere Relevanz hat. Diese Solidaritätsreise war an sich für das vergangene Jahr geplant gewesen. Dann aber brach der Krieg in der Ukraine aus, weswegen wir 2022 kurzerhand in der Ukraine und in Polen waren. In diesem Jahr wurde die Reise nach Griechenland und in die Türkei nachgeholt, weil diese beiden Länder Hotspots der Fluchtbewegung sind.
Was waren die bewegendsten Eindrücke für Sie?
Das Bewegendste waren für mich die direkten Begegnungen mit den geflüchteten Menschen selbst, zum Beispiel im Flüchtlingslager der Insel Lesbos.
Auf den ersten Blick ist die Insel eine Ferienidylle. Zwei Kilometer in Richtung Küste befindet sich dann das Flüchtlingscamp. Die Menschen leben in Containern. Gott sei Dank hat jeder Container eine Klimaanlage, aber in einem Container leben acht bis zehn oder manchmal sogar 15 Menschen aus mehreren Familien.
Ich habe versucht, Worte zu finden
ERZBISCHOF STEFAN
In einem Büro-Container der Caritas sind wir dann mit Geflüchteten zusammengekommen. Da habe ich das Elend gehört, was diese Menschen umfängt.
Die Schutzsuchenden waren Familien aus Afghanistan, zum Teil mit kleinen Kindern. Eine Frau berichtete uns, dass sie auf der Flucht ihr Kind verloren hat. Sie selbst leidet an Epilepsie und ein Lager ist keine geeignete Umgebung, um mit einer schweren Krankheit zurechtzukommen. Eine besondere medizinische Versorgung für Spezialfälle gibt es dort nicht. Auch von traumatisierenden Gewalterfahrungen auf der Flucht wurde mir berichtet. Nicht wenige der Menschen, mit denen ich sprach, sind traumatisiert.
Und wie war es in der Türkei?
In der Türkei, genauer in Izmir, hatten wir mit der Caritas ebenfalls eine Begegnung mit Geflüchteten. Dort berichteten 30, 40 geflüchtete Menschen, einer nach dem anderen, von ihren Belastungen: Gesundheit, Arbeitslosigkeiten, Eltern, die Angst haben um ihre kleinen Kinder, der Mangel an Bildung und vieles andere mehr. Ein Mann zum Beispiel erzählte, dass er mit seinen vier erwachsenen Kindern geflohen ist, die alle eine Behinderung haben. Damit musste er auf der beschwerlichen Flucht zurechtkommen. Ich war sprachlos, habe dann aber versucht, in der Situation Worte zu finden und den Menschen ein bisschen Trost oder Perspektive zu geben, wofür sie dankbar waren.
Wieso meinen Sie, war diese Reise so wichtig?
Die Reise war wichtig, weil diese Gebiete Hotspots der Fluchtbewegung sind. In der Türkei halten sich derzeit vier Millionen geflüchtete Menschen auf. Es gibt viele Orte und Regionen der Welt, aus welchen Menschen aufbrechen. Sie machen das nicht, weil es „so schön“ wäre. Grund sind die prekären Lebensbedingungen in ihren Herkunftsländern; man kann dort kaum existieren. Die Flüchtenden nehmen oft nur mit, was sie gerade am Leib tragen. Viele sind auf Schleuser angewiesen, die sie förmlich ausbeuten. Existenziell ist auch, dass viele Menschen nicht schwimmen können und bei einer Flucht mit dem Schlauchboot deswegen in größten Nöten sind. Deshalb ist es wichtig, auf die Lage aufmerksam zu machen und sowohl mit den Geflüchteten zu reden als auch mit Institutionen, die sich vor Ort engagieren.
Was nehmen Sie von Ihrer Solidaritätsreise mit?
Es ist wichtig, dass wir von dem erzählen, was wir in den Flüchtlingscamps gesehen haben. Deswegen waren auch die Begegnungen mit den Botschaften in Athen und Istanbul wichtig. Dort haben wir unsere noch frischen Eindrücke und Erfahrungen weitergegeben. Wir müssen Anwälte für die Menschenwürde der Geflüchteten sein. Der Flüchtlingsschutz ist eine rechtliche und ethische Verpflichtung für alle.
Immer wieder haben wir daher für Kooperation, gemeinsame Aktionen und ein abgestimmtes Handeln geworben. Das ist nicht nur zwischen NGOs und offiziellen Stellen unerlässlich, sondern auch zwischen den Nationen. Die Krise ist so groß, dass keiner allein die Lösung bieten kann. Nur alle Nationen, in Kooperation miteinander, sind dazu in der Lage.
Interview: Melanie Giering
Dieses Interview ist auch als Video zu sehen; auf Youtube oder unter: www.facebook.com/erzbistumhamburg