Caritas-Interview zu Flucht und Migration
"Diese Menschen haben echt Power"
Weltweit sind immer mehr Menschen auf der Flucht – wie aktuell in Afghanistan. Was bedeutet das für uns? Wie gelingt Integration? Und wo ist die Kirche und jeder einzelne Christ gefordert? Auszüge aus einem Gespräch mit Caritas-Migrationsberaterin Alexandra Franke aus Osnabrück.
Jeder von uns hat noch die dramatischen Bilder vom Flughafen in Kabul im Kopf. Wie ging es Ihnen?
Es war unbegreiflich! In der Migrationsberatung bekamen wir die Auswirkungen direkt zu spüren: Viele Afghanen, die hier leben, riefen verzweifelt an. Sie hatten Angst um ihre Angehörigen und wollten wissen, wie sie sie nach Deutschland holen können. Dabei können wir leider nicht helfen. Oft gibt es nicht mal einen Anspruch auf Familiennachzug – weil das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist oder weil es sich nicht um Angehörige ersten Grades handelt: die Ehefrau, den Ehemann oder minderjährige Kinder.
Das Thema Flüchtlinge spaltet unsere Gesellschaft. Die einen wollen helfen, die anderen befürchten, dass wir überrannt werden.
Ich frage dann immer zurück: Woran macht du denn fest, dass wir überrannt werden? Hast du weniger Geld auf dem Konto, seitdem du einen syrischen Nachbarn hast? Die Angst vor Zuwanderung ist diffus, weil wir oft nur die anonyme Masse wahrnehmen und nicht den einzelnen Menschen sehen. Wir beraten Menschen, die eine jahrelange Odyssee hinter sich haben, in Flüchtlingscamps ausharren mussten oder aufgrund des Dublin-Abkommens hin- und hergeschoben wurden. Es ist beschämend, dass wir Menschen wie Ware behandeln.
Wie können wir unsere Haltung gegenüber Geflüchteten ändern?
Wir müssen Begegnungen schaffen, uns kennenlernen. Dann wird das Thema Flucht und Migration greifbar. Es bekommt eine andere Dimension. Erst dann merke ich, dass ich Menschen mit einer Geschichte vor mir habe und entdecke Gemeinsamkeiten.
Nicht die schlechteste Voraussetzung für gelingende Integration.
Integration ist ein Marathon, und ja, zur Integration gehört auch Offenheit und das Interesse am Gegenüber. Ich mag es übrigens nicht, wenn man nur von den „armen Flüchtlingen“ spricht, die an die Hand genommen werden müssen. Wir unterstützen sie in der Caritas-Beratung, erklären ihnen, welche Möglichkeiten es gibt, aber sie entscheiden selbst – und schaffen das auch. Es sind Menschen, die echt Power haben – manchmal mehr als wir alle zusammen. Wir können auch von ihnen lernen.
Was zum Beispiel?
Eine gewisse Resilienz: nicht einfach den Kopf in den Sand zu stecken, sondern weiterzukämpfen. Darüber habe ich auch meine Masterarbeit in Sozialpolitik und Sozialen Beziehungen geschrieben. Es hat mich interessiert, was Menschen, die alles verloren haben – ihre Familien und Freunde, ihre Wurzeln, ihre Heimat – die Kraft gibt, weiterzumachen. Eine große Rolle spielt der Glaube. Und die Hoffnung auf ein friedvolles Leben. Ein Leben, in dem sie sich keine Sorgen machen müssen, die Kinder zur Schule gehen können. Überall wollen Mütter und Väter das Beste für ihre Kinder.
Wo sehen Sie die Kirche und auch den einzelnen Christen in der Pflicht?
Es ist in der katholischen Kirche sehr ruhig geworden bei den Themen Flucht und Migration. Manchmal habe ich das Gefühl, sie beschäftigt sich nur noch mit sich selbst, dem sexuellen Missbrauch, den Kirchenaustritten. Sie muss dort, wo es um notleidende Menschen geht, wieder mutig Stellung beziehen, sonst kann sie ihre Türen schließen. Aber leider liegt durch Corona einiges brach, auch im ehrenamtlichen Bereich. Im Übrigen ist Flüchtlingsarbeit nicht nur eine Aufgabe der Kirche, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir sollten auch stärker den interreligiösen Dialog suchen. Manchmal stellen wir in der Caritas-Beratung fest, dass der Imam vielleicht die bessere Anlaufstelle ist.
Interview: Anja Sabel
Das komplette Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Kirchenboten.