Priester berichtet über seinen Alkoholismus
Dieser Kampf ist hart
Anfeindungen gilt es zu ertragen – aber man muss sich ihnen auch stellen und sich gegen sie wehren. Das empfiehlt Paulus im Hebräerbrief. Und das empfiehlt Thorsten Weßling, Priester und trockener Alkoholiker.
Thorsten Weßling weiß, wie es ist, in einem Kampf zu stecken: die Suche nach immer neuen Ausreden, die Angst aufzufallen, der Druck, funktionieren zu müssen. Der Priester, der im westfälischen Hörstel lebt, ist Alkoholiker und seit 26 Jahren trocken. „Es hat lange gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass ich ein Problem hatte und dass ich alleine da nicht rauskomme“, sagt der 60-Jährige. „Die Erkenntnis, dass ich den Kampf gegen den Alkohol nicht gewinnen konnte, leitete die entscheidende Wende ein.“
In der neutestamentlichen Lesung an diesem Sonntag schwört Paulus die Gemeinde auf einen Wettkampf ein: Die Gläubigen sollen die Last und die Sünde abwerfen und all ihre Aufmerksamkeit auf Christus lenken. Er schreibt: „Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt, und dabei auf Jesus blicken.“ Vor der Gemeinde liegt ein Weg, der nicht leicht wird.
Trockene Alkoholiker durchschauen ihn schnell
Am Anfang der Sucht, sagt Thorsten Weßling, sei es durchaus einfach gewesen. Schon mit 17 Jahren fing der gebürtige Wilhelmshavener an, regelmäßig zu trinken. „Das war damals kein Wettkampf, sondern ein Vergnügen. Ich habe reichlich und bei vielen Gelegenheiten getrunken. Das verschaffte mir ein Stück Geselligkeit, Anerkennung und auch Anschluss“, sagt er. In seiner Familie fiel das niemandem auf. „Wir hatten ein recht lockeres Verhältnis zum Alkohol. Ich habe meine halbe Jugend auf dem Sportplatz verbracht und da wurde auch gerne mal was getrunken. Da fiel ich nicht besonders auf“, sagt er.
1991 wurde er in Münster zum Priester geweiht und kam als Kaplan nach Ibbenbüren. Er war hauptsächlich in der Jugendarbeit aktiv und engagierte sich auf verschiedenen Ebenen bei der DJK, dem katholischen Sportverband – wo er in den Vorständen und Beiräten auf trockene Alkoholiker traf. „Die haben mich schnell durchschaut“, erinnert sich Weßling. „Ich habe damals schon einen gewissen Pegel gebraucht, um zu funktionieren.“ Alle Hinweise, er würde zu viel trinken, wies er von sich. „Ich wollte das nicht wahrhaben“, sagt Weßling. Verdrängen, leugnen und lügen sind symptomatische Verhaltensweisen eines Suchtkranken, der um jeden Preis weiter konsumieren möchte.
Doch der Priester trank immer mehr. Zum Frühstück brauchte er eine halbe Flasche Korn. Er verschlief Termine. Die Anzeichen für seine Alkoholkrankheit mehrten sich: Freunde und sein Hausarzt warnten ihn. „Dann fing die Heimlichtuerei an“, sagt Weßling. Offiziell erklärte er, aus gesundheitlichen Gründen keinen Alkohol mehr trinken zu dürfen. Zu Hause aber trank er flaschenweise. „Das ist mit einem enormen Stress verbunden: Wo kaufe ich diese Unmengen ein? Wo lasse ich mein Leergut?“, sagt Weßling. Irgendwann hatte er einen Zusammenbruch, fiel wochenlang in der Gemeinde aus. Er war körperlich und psychisch am Ende.
Die Gemeinde bittet er um Unterstützung
Da wurde ihm langsam klar: Du hast ein Problem. „Dann fängt es an, das zu werden, was der Hebräerbrief meint: ein Kampf“, sagt Weßling. Er merkte: Ich muss etwas ändern – aber alle Versuche scheiterten. „Ich weiß gar nicht, wie oft ich mir Silvester vorgenommen habe, weniger oder gar nicht mehr zu trinken. Spätestens am 3. Januar war das vergessen“, sagt Weßling. Ein Suchtkranker müsse vor seiner Sucht kapitulieren und sich helfen lassen: „Nur dann hat man die Chance, aus der Nummer rauszukommen.“
Bei einem Mitbruder, der sich um süchtige Geistliche kümmerte, machte der damals 34-Jährige einen kalten Entzug. „Das war ein wirklich harter Kampf“, sagt Weßling. Anschließend ging er für sechs Wochen zur Therapie ins St.-Antonius-Krankenhaus in Hörstel. „Da ist bei mir endgültig die Erkenntnis eingerastet, dass ich keinen Alkohol mehr trinken darf, wenn ich weiter- und gesund leben will“, sagt Weßling.
Gleich am Tag seiner Entlassung feierte er am Abend den Gottesdienst in seiner Ibbenbürener Gemeinde. „Es war das Fest Kreuzerhöhung und ich hatte in der Klinik die Predigt geschrieben“, sagt Weßling. Auf seine persönliche Situation wollte er nicht eingehen. Doch auf dem Weg zur Kanzel änderte er seine Meinung: „Ich habe meinen Text zur Seite gelegt und der Gemeinde erklärt, dass ich alkoholkrank bin, in Therapie war, jetzt versuche, abstinent zu leben, und dass ich mich freuen würde, wenn sie mich dabei unterstützen würden.“
Er kann seinen Blick wieder auf Jesus richten
Woher kam der Sinneswandel? „Ich habe anschließend lange darüber nachgedacht und ich glaube, die alttestamentliche Lesung war der entscheidende Impuls“, sagt Weßling. Darin wird erzählt, wie das Volk Israel in der Wüste unter einer Giftschlangenplage leidet. Gott befiehlt Mose, eine kupferne Schlange zu bauen und sie aufzuhängen. Jeder, der gebissen wurde, soll sie anschauen und wird gerettet. „Wer von einem Übel befallen ist, kann es überwinden, nicht indem er es verdrängt, sondern im Gegenteil: indem er auf die Wurzel des Übels schaut und so Heilung erfährt“, sagt Weßling.
Heute arbeitet er als Seelsorger in den Fachkliniken für Suchtkranke in Hörstel und in Neuenkirchen-Vörden, er ist geistlicher Beirat für den Kreuzbund und arbeitet in der bistumsinternen Suchtberatung für Geistliche im Bistum Münster. Selbst betroffen zu sein, ist für ihn ein riesiger Vorteil. „Das ist in vielen Gesprächen ein Türöffner, weil ich weiß, wovon ich rede“, sagt Weßling.
Ihm selbst hat das Stundengebet geholfen, zu seiner Spiritualität zurückzufinden. Oder Jesusgeschichten, mit denen er einen Weg fand, sich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen. „Mein Glaube wurde in der Hochphase der Sucht zur Pflichterfüllung. Erst in dem Moment, in dem ich abstinent wurde, konnte ich meinen Blick wieder auf Jesus richten“, sagt Weßling.
Die Sucht empfindet er heute nicht mehr als Kampf. Er weiß aber auch: Sucht ist etwas, das bleibt. Weßling sagt: „Sie ist wie ein Teufelchen auf meiner Schulter, das darauf wartet, wieder loszuschlagen. Aber weil ich weiß, dass es da sitzt, passe ich auf. Ich kenne mich und meine Schwächen und weiß, wo es für mich kritisch werden könnte.“
Von Kerstin Ostendorf