Ein Fach – viele Anschauungen

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Beim Religionsunterricht geht Hamburg einen bundesweit einmaligen Weg: Angehörige aller Konfessionen und Atheisten lernen gemeinsam. Wie läuft das, und ist das auf andere Bundesländer übertragbar? Ein Schulbesuch.


Religionslehrer Christian Stürznickel während des Unterrichts am Gymnasium Lerchenfeld. | Foto: Michael Althaus

VON MICHAEL ALTHAUS

„Wir sind die Krone der Schöpfung“, tönt es durch das Klassenzimmer. Ein Frosch mit gekröntem Haupt tanzt über die Leinwand. Ein Musikvideo der Gruppe „Die Prinzen“ eröffnet an diesem Nachmittag die Religionsstunde. Gebannt schauen die Schüler der zwölften Jahrgangsstufe des Hamburger Gymnasiums Lerchenfeld zu. Lehrer Christian Stürznickel (36) hat das Lied passend zum Thema der Stunde ausgewählt: „Ist der Mensch ‚Krone der Schöpfung‘ oder ‚Fehler in der Matrix‘?“

Stürznickel ist katholischer Religionslehrer, unterrichtet aber auch evangelische, muslimische, jüdische, alevitische und konfessionslose Jugendliche. Dieser „Religionsunterricht für alle“ – kurz: Rufa – ist bundesweit einzigartig. Zunächst wurde er allein von der evangelischen Kirche verantwortet. Seit 2019 gestalten den sogenannten Rufa 2.0 auch drei islamische Verbände, die alevitische und die jüdische Gemeinde mit. Nach einigem Zögern stieg im vergangenen Jahr auch das Erzbistum Hamburg ein.

Stürznickel verteilt einen christlichen, einen muslimischen und einen philosophischen Text. In drei Gruppen sollen sich die Schüler jeweils mit einem Beitrag auseinandersetzen. In diesen sogenannten religionsspezifischen Phasen sollen die Schüler ihre Kenntnisse über die Binnensicht der jeweiligen Glaubensgemeinschaft vertiefen. Sie müssen mindestens die Hälfte des Unterrichts ausmachen. So soll unter anderem sichergestellt werden, dass der Unterricht gemäß dem Grundgesetz bekenntnisorientiert ist und keine rein wissenschaftliche Religionskunde.

„Das gemeinsame Lernen der Kinder ist eine wunderbare Idee für unsere religiös und kulturell vielfältige Stadt“, sagte der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD), selbst ausgebildeter Religionslehrer, bei der Einführung des Rufa 2.0. Der Einstieg der Katholiken in das Modell war für ihn „religiös betrachtet ein Erdbeben“. Erzbischof Stefan Heße sprach von „einer dem Frieden dienenden Kooperation“.

Unter Stürznickels Schülern gibt es viel Zustimmung zum gemeinsamen Unterricht. „Ich habe das nie anders kennengelernt“, sagt die 16-jährige Morgane, die sich als „spirituell“ bezeichnet, aber keiner bestimmten Religion zugehörig fühlt. „Wenn es jetzt nur katholischen oder evangelischen Unterricht gäbe, würde ich wahrscheinlich Philosophie wählen.“ Für Sarah ist es wichtig, mit Angehörigen anderer Glaubensrichtungen zusammen zu lernen. „Ich interessiere mich nicht nur für meinen eigenen Glauben, sondern auch für die Sichtweisen anderer Religionen“, so die 17-jährige Muslimin. Und die evangelisch getaufte Anna (17) meint, der gemeinsame Unterricht trage zu einer weltoffenen Haltung bei. Auch die Eltern stehen laut Stürznickel mehrheitlich hinter dem Modell. Das spiegelt sich in den Zahlen wider: Das Fach Religion hat in Hamburg im Vergleich aller Bundesländer die geringste Quote bei den Abmeldungen.

Herausforderung für die Lehrer

Auch unter den Katholiken hat sich von Anfang an eine große Mehrheit für den Rufa entschieden – mit der Folge, dass der rein katholische Religionsunterricht in der Hansestadt zuletzt nur an drei staatlichen Schulen erteilt wurde. Ein Grund für den Einstieg des Erzbistums.

Für die Lehrer ist der plurale Unterricht eine Herausforderung. Sie müssen sich in der eigenen und in fremden Religionen auskennen; sie sollen Zeuge der eigenen Religion sein und zwischen den Glaubensrichtungen moderieren. Nach anfänglicher Unsicherheit glaubt Lehrer Stürznickel inzwischen, sich beispielsweise im Islam mit seinen vielen verschiedenen Verzweigungen zurechtzufinden.

Um Lehrer für den Rufa auszubilden, müssen Studenten an der Universität Hamburg neben evangelischer Theologie seit einigen Jahren auch Seminare in katholischer, alevitischer und islamischer Theologie besuchen. Nach einer Reform der Lehrerausbildung können derzeit jedoch katholische, alevitische und islamische Theologie nur auf Grundschullehramt studiert werden. Eine von der Stadt versprochene Ausweitung der drei Studiengänge sei „in Vorbereitung“, heißt es von der Wissenschaftsbehörde.

Vom angestrebten Ideal einer multireligiösen Lehrerschaft ist Hamburg derzeit noch weit entfernt. Von den rund 2 000 Religionslehrern sind 100 katholisch, 20 muslimisch und 10 alevitisch. Die große Mehrheit ist evangelisch. Stürznickel, der früher kurzzeitig in Nordrhein-Westfalen rein katholischen Religionsunterricht erteilte, meint dennoch, dass „in einer Gesellschaft, in der man das Gefühl hat, wir ziehen uns immer mehr in Blasen zurück, der Rufa ein Beitrag zur Toleranz-Erziehung“, sei. Erzbischof Heße, zu dessen Gebiet auch Schleswig-Holstein und Teile Mecklenburg-Vorpommerns gehören, hält den Rufa nicht für die Flächenländer geeignet. Das Modell sei auf die gesellschaftlichen Bedingungen Hamburgs zugeschnitten. kna