Betrachtungen zur neuen Enzyklika von Papst Franziskus.
Ein Herz für alle
imago/ZUMA Press
Von Christian Hennecke
Es geht um die Liebe. Nicht um ein blasses Gefühl, sondern um eine dynamische, leidenschaftliche Liebe, um eine Kraft, die die Welt verändern kann. Es geht um die Liebe Gottes zu uns Menschen.
Papst Franziskus beginnt seine vierte Enzyklika, die wesentlich von seiner persönlichen Spiritualität geprägt ist, mit diesen Worten: „,Dilexit nos – Er hat uns geliebt‘, sagt Paulus über Christus (vgl. Röm 8,37), um uns erkennen zu lassen, dass uns nichts von dieser Liebe ,scheiden kann’ (vgl. Röm 8,39) ... Sein offenes Herz kommt uns zuvor und wartet bedingungslos auf uns, ohne Vorleistungen zu erwarten ..., um uns lieben und uns seine Freundschaft anbieten zu können: Er hat uns zuerst geliebt (vgl. 1 Joh 4,10).“
Was möchte Papst Franziskus mit dieser Enzyklika? Warum schreibt er sie jetzt? Wieso wird das Herz Jesu für ihn zur zentralen Mitte einer christlichen Spiritualität? Und wie kann dieser für viele vielleicht eher fremde Zugang für uns relevant werden? Diese Fragen können helfen, dieses Schreiben einzuordnen und neugierig zu machen auf eine ungewöhnliche Perspektive.
Liest man „Dilexit nos“ in der Reihe der päpstlichen Interventionen, könnte man ein stimmiges Mosaik entdecken. In seiner Programmschrift „Evangelii Gaudium“ (2013) ging es um die Verkündigung des Evangeliums in einer Kirche, die sich häufig um sich selbst dreht und sich festhält an überkommenen Paradigmen. Mit „Laudato si“ (2015) und „Fratelli tutti“ (2020) schärfte Franziskus diese Perspektive im Sinne einer ganzheitlichen Ökologie und im Blick auf die Frage des Zusammenlebens aller Menschen. Selten hat ein Papst so massive und doch konstruktive Kritik an den ungerechten Gesellschaftsverhältnissen geübt. Wie reiht sich nun eine so fromme und tief spirituelle Reflexion in diesen Weg ein? Will der Papst hier die Wurzel seiner Leidenschaft für das Evangelium offenlegen?
Er sieht eine wachsende Ungerechtigkeit
Die Enzyklika erscheint am Ende eines langen synodalen Übungsweges. Synodalität als spirituell gegründeten Vollzug eines Kircheseins, das das ganze Volk Gottes einbeziehen muss: Laien und Kleriker, Frauen und Männer – vor Ort und in Rom. Die Synode ist und bleibt eine Herausforderung, Spiritualität und konkrete Partizipation, geistliche Kultur und konkrete Reform zusammen zu leben – eine Herausforderung, die auch viele überfordert und enttäuscht. Es ist ein langer Weg aus dem Klerikalismus und für den Papst ist entscheidend, dass der Grund dieser neuen Dynamik alles prägt: die göttliche Liebe, die sich im Herz Christi zeigt.
Der Papst lenkt den Blick auf die Liebe in einem Augenblick tiefgreifenden Wandels der Weltordnung und wachsender perverser Ungerechtigkeit: „Heute ist alles käuflich und bezahlbar, und es scheint, dass Sinn und Würde von Dingen abhängen, die man durch die Macht des Geldes erwirbt. Wir werden getrieben, nur anzuhäufen, zu konsumieren und uns abzulenken, gefangen in einem entwürdigenden System, das uns nicht erlaubt, über unsere unmittelbaren und armseligen Bedürfnisse hinauszusehen. Die Liebe Christi steht außerhalb dieses abartigen Räderwerks, und er allein kann uns von diesem Fieber befreien, in dem es keinen Platz mehr für eine bedingungslose Liebe gibt. Er ist in der Lage, dieser Erde ein Herz zu verleihen und die Liebe neu zu beleben, wo wir meinen, die Fähigkeit zu lieben sei für immer tot.“
Ausführlich reflektiert der Papst „über die menschliche und göttliche Liebe des Herzens Jesu Christi“, so der Untertitel der Enzyklika. Es geht ihm um die göttliche Liebe, die uns erfüllt und verwandelt, unsere Menschenliebe prägt. Es geht darum, dieses Geschenk als Grundwirklichkeit des Menschseins zu entdecken. Die radikale Menschlichkeit der göttlichen Liebe fragte kirchliche Kulturen an, „die sich nur auf äußere Aktivitäten konzentrieren, auf strukturelle Reformen, die nichts mit dem Evangelium zu tun haben, auf zwanghaftes Organisieren, auf weltliche Projekte, auf säkularisiertes Denken, auf verschiedene Vorschläge, die als Erfordernisse dargestellt werden und die man bisweilen allen aufdrängen will“.
Er will eine andere kirchliche Kultur
Die Liebe neu in den Mittelpunkt zu rücken – das „hat auch die Kirche nötig, damit nicht an die Stelle der Liebe Christi vergängliche Strukturen, Zwangsvorstellungen vergangener Zeiten, Anbetung der eigenen Gesinnung oder Fanatismus aller Art treten, die schließlich den Platz der bedingungslosen Liebe Gottes einnehmen, die befreit, belebt, das Herz erfreut und die Gemeinschaften nährt“. Harte Kritik, aber es wird deutlich, dass der Papst eine andere kirchliche Kultur auf den Weg bringen will, die spirituell-mystisch gegründet ist und Kirche radikal erneuert.
In seiner Enzyklika geht es dem Papst auch um politisch-gesellschaftliche Erneuerung: um eine „Zivilisation der Liebe“, um eine politisch wirkmächtige Mystik, die gelebte Geschwisterlichkeit in den Mittelpunkt unserer Gesellschaften rückt. Zu fragen wird sein, ob die vielen ungewohnte Fremdheit seines Zugangs diese zentrale Herausforderung unserer Zukunft neu erschließen kann.
Zur Person:
Christian Hennecke ist Theologe und Priester im Bistum Hildesheim. 2015 übernahm er die Leitung der Hauptabteilung Pastoral des Bistums. Seit 2022 leitet er den Bereich Sendung im Bischöflichen Generalvikariat. Er hat zahlreiche Bücher zur Entwicklung der Kirche geschrieben.